„Um zur Abstraktion zu kommen, muss man immer von einer greifbaren Realität ausgehen“

Der Stier und die Kunst der Abstraktion

Von Manuel Maldonado-Alemán

Als der Primitivismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der europäischen Avantgarde als Ästhetik des Widerstandes gegen Normvorstellungen der spätbürgerlichen Kultur entstand, suchte man überall nach vorzivilisatorischen Ausdrucksformen, nach dem Ursprünglichen und Unverfälschten, nach einer neuen Denk- bzw. Wahrnehmungsform, die im wissenschaftlichen Diskurs mit verschiedenen, häufig synonym gebrauchten Begriffen bezeichnet wird: „mythisches“, „magisches“, „primitives“, „wildes“ oder „prälogisches“ Denken. In der Begegnung mit Kultformen und Weltanschauungen ‚primitiver‘ Völker in Afrika oder auf den Südseeinseln erhofften sich viele Künstler und Autoren, den Ursprüngen schöpferischen Daseins nahe zu kommen, eine naturhafte, genuin ästhetische Reinheit wiederzufinden, die jenseits des von den Gesetzen der Logik und Kausalität geprägten rationalen Denkens des modernen zivilisierten Menschen auf einer mythischen Denkform basiert. Aufgrund der Verweigerung logisch-rationaler Kausalitäten wurde die neue Denkform als ein „Anderes der Vernunft“ konzipiert (Bürger 1983, 41). Insbesondere die sogenannte art nègre (Negerkunst), ein Ausdruck, welcher am Anfang des 20. Jahrhunderts synonym zu ‚primitiver Kunst‘ gebraucht wurde und freilich nicht nur die ‚Negerkunst‘ Afrikas, sondern auch die ozeanischen Kulturen umfasste, wurde zum Mittel der ästhetischen Erneuerung. Die ‚Negerkunst‘ verkörperte Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Einfachheit, Reinheit, Naivität, Direktheit, Spontaneität, Vitalität, Abstraktion oder Deformation und wurde somit als Gegenbild zur bürgerlichen Ordnung abendländlicher Zivilisation und Traditionen aufgefasst. Das ‚Primitive‘ dieser Kunstformen sollte eine radikale Neubestimmung der europäischen Kunst und Literatur, eine antibürgerliche, transgressive Ästhetik ermöglichen, die sich enthusiastisch von einer mimetischen Logik distanzierte. Insbesondere der Kubismus und die Entstehung der abstrakten Kunst wurden mit der afrikanischen und ozeanischen Plastik in Verbindung gebracht.

Primitivismus bezeichnet demnach, wie es schon der Vergleich zwischen Gauguin und Picasso zeigt, weniger ein Bekenntnis zu einer „fremden Lebensform“ (Meyer-Sickendiek 2012, 317), wie dies etwa bei Gauguin der Fall ist, also keine kulturelle Regression, als vielmehr das Vorbild einer neuen Ästhetik, die den radikalen Bruch mit der Tradition intendiert. Kunsthistorisch ist der Primitivismus kein Gattungsbegriff, sondern ein „innerästhetisches Potenzierungsprinzip” (ebd.), das sich nicht auf „Nachahmung von Objektqualitäten“ gründet, sondern auf die „Aneignung einer vermeintlich ‚primitiven‘ Weltwahrnehmung und -anschauung“ (Gess 2012, 3).[1] In diesem Sinne interessierte sich Picasso für die ‚primitive‘ Kunst:

C’est qu’il [l’art nègre] m’est devenu trop familier, les statues africaines qui traînent un peu partout chez moi, sont plus des témoins que des exemples. J’ai aimé les belles images foraines, les têtes des coiffeurs et les Sidonies des modistes. J’ai encore beaucoup d’appétit pour aimer les objets curieux ou charmants [Pablo Picasso zitiert nach Read 1995, 60].

In der letzten Entstehungsphase seines Bildes Les Demoiselles d‘Avignon (1907, New York, Museum of Modern Art) war Picasso von den Reduktions- und Abstraktionsprinzipien afrikanischer Kunst stark beeindruckt.[2] Seinem langjährigen Sekretär Jaiume Sabartès gegenüber erklärte er:

Die primitive Skulptur wurde nie übertroffen. Ist dir bei den Höhlenmalereien die Präzision der Linien aufgefallen? […] Der Mensch hörte auf einfach zu sein. Er wollte mehr sehen und verlor dabei die Fähigkeit, das zu verstehen, was er im Blickfeld hatte. […] Die Idee der Kunst [besteht weiter]; aber was die Kunstschulen damit gemacht haben, wissen wir ja […]. Das Wesen hat sich verflüchtigt und was übrig bleibt, kannst du geschenkt haben [Pablo Picasso zitiert nach Lavin 1995, 65-66].

Picasso lehnte die Akademisierung und Systematisierung von Kunst ab und erhoffte sich in der archaischen und volkstümlichen Kunst die ursprüngliche Reinheit und Authentizität wiederzufinden. Allerdings bemühte sich Picasso darum, dass auch die abstrakte Kunst, die im Rahmen dieses Interesses entstand, in einer „greifbaren Realität“ verankert blieb. In einer Diskussion über die Grenzen der abstrakten Kunst sagte er zu dem Fotografen Brassai Folgendes:

Pinselstriche, die überhaupt keinen Sinn haben, werden nie ein Bild ergeben. Auch ich werfe manchmal Pinselstriche hin, die dann so aussehen, als wären sie abstrakt… Aber immer bedeuten sie etwas: einen Stier, eine Arena, das Meer, Gebirge, die Menge… Um zur Abstraktion zu kommen, muss man immer von einer greifbaren Realität ausgehen. […] Wenn ich das Wort ‚Mensch’ ausspreche, erwecke ich die Vorstellung eines Menschen. Das Wort ist zum Symbol für den Menschen geworden. Es stellt ihn nicht dar, wie eine Fotografie es könnte. Zwei Löcher sind das Symbol für das Gesicht, sie genügen, um die Vorstellung eines Gesichts hervorzurufen, ohne es darzustellen. […] Man kann sagen oder denken was man will: ohne es zu wissen oder es zu wollen, imitiert man doch immer irgend etwas… [Pablo Picasso zitiert nach Brassai 1985, 174-175]

Seine Auffassungen über die abstrakte Kunst versuchte Picasso anhand des Motivs des Stiers zu veranschaulichen, eines Motivs, das in seinem Gesamtwerk bestimmend ist, so in den zwischen 1890-1892 entstandenen Stier- und Corridadarstellungen, in jenen der zwanziger Jahre, später als Minotaurus in der Suite Vollard aus den dreißiger Jahren, im Guernica-Gemälde von 1937, als Skelettkopf in den Stillleben des 2. Weltkriegs und dann in der Lithographienserie Der Stier von 1945/46 (vgl. Theil 2007, 267-268; Cox 1995).

Der Stier als Träger der Lebenskraft ist bei Picasso ein Fruchtbarkeits- und ein Machtsymbol zugleich. Außerdem stellt er anhand des Mischwesens des Minotaurus (halb Mensch, halb Stier) den inneren Konflikt des Menschen zwischen triebhaftem Handeln und zivilisiertemVerhalten dar. Picasso brachte diese Symbolik mit den rituell-symbolischen Komponenten des Stierkampfes in Verbindung. Er begriff den spanischen Stierkampf, dem er eine herausragende Bedeutung für seine Kunst und sein Leben beimaß, als ein Fortleben des Mithraskultes, nach welchem der Stier ein rituelles Opfertier ist und daher in Zusammenhang mit dem Tod und der Wiedergeburt steht. Darüber hinaus ist der Stierkampf bei Picasso ein Ausdruck des Geschlechterkampfes, ein Symbol der erotischen Spannung zwischen Mann und Frau. Die Corrida ist somit, aus Picassos Sicht, ein Opferritual, eine „symbolische Darstellung der Konfrontation von Licht und Schatten, von Gut und Böse, von menschlichem Geist und Naturkraft, von Eros und Thanatos oder des Geschlechtsakts“ (Theil 2007, 270).[3]

Aber der Stier ist bei Picasso mehr als ein Symbol der Erneuerung des Lebens und des Animalischen. Er fungiert in seiner Kunst als ein innerästhetisches Potenzierungsmotiv, anhand dessen Picasso sein ästhetisches Konzept einer abstrakten Kunst konkretisiert und exemplifiziert. Insbesondere in der Lithografienserie Der Stier von 1945/46 zeigt Picasso anhand des Stiers in elf Zeichnungen den Weg von der realistischen Abbildung über die kubistische Darstellung bis hin zur Abstraktion.

1. Zustand: Naturgetreue Abbildung.

Picasso_Stier_1

2. Zustand: Die Schwere und das Animalische werden herausgearbeitet.

 Picasso_Stier_2

3. Zustand: Proportion, Knochenbau und Kraft werden hervorgehoben.

 Picasso_Stier_3

4. Zustand: Die Muskulatur steht im Zentrum.

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5. Zustand: Innere Bezüge und Kraftlinien treten hervor.

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6. Zustand: Mächtiger Schädel wird ironisch dargestellt und die Zeugungskraft betont.

 Picasso_Stier_6

7. Zustand: Begrenzungslinien werden herausgearbeitet. Der Schädel bekommt damit ein neues Gewicht.

 Picasso_Stier_7

8. Zustand: Eine Variation des 7. Zustandes.

 Picasso_Stier_8

9. Zustand: Das Liniengeflecht wird vereinfacht. Es bleiben nur die typischsten Elemente.

 Picasso_Stier_9

10. Zustand: Die Linien werden weiter auf das Wesentliche reduziert.

 Picasso_Stier_10

11. Zustand: Es bleibt nur der Umriss

 Picasso_Stier_11

In dieser Stier-Serie führt Picasso nicht die Entstehung eines abstrakten Bildes vor, sondern den Prozess des Abstrahierens selbst. Die Konkretion der ersten Darstellung wird immer mehr reduziert bis nur noch eine Linienfigur übrigbleibt. Aus der realistischen Abbildung der Größenverhältnisse eines Stiers in der ersten Lithografie wird zunächst ein Stier mit imposantem Schädel und mächtigen Hörnern. Unterschiedliche Eigenschaften des Stiers werden dann hervorgehoben: Volumen, Schwere, Knochenbau, Muskulatur, Zeugungskraft. Im Folgenden wird der Stier in geometrische Formen gegliedert, auf ein knappes Liniengerüst vereinfacht und auf seine Grundelemente zurückgeführt. Durch die Reduktion auf das Wesentliche wird schließlich die letzte Umrisszeichnung zum Symbol für den Stier. Obwohl die Formen und Linien auf ein Minimum reduziert sind, verweist die Abstraktion auf die spezifische Identität des Stiers, auf das Unverwechselbare seiner Gestalt, und bleibt damit gegenstandsbezogen und referenzgebunden.

Literatur

Brassai: Gespräche mit Picasso. Reinbek bei Hamburg 1985.

Bürger, Peter: Über den Umgang mit dem andern der Vernunft. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. von Karl-Heinz Bohrer. Frankfurt a. M. 1983, S. 41-51.

Cox, Neil / Deborah Povey: A Picasso Bestiary. Croydon 1995.

Gess, Nicola: Literarischer Primitivismus: Chancen und Grenzen eines Begriffs. In: Literarischer Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Nicola Gess. Berlin, New York 2012, S. 1-9.

Lavin, Irving: Picassos Stiere. Berlin 1995.

Meyer-Sickendiek, Burkhard: Primitivismus. Literarische ‘Anti-Kunst’ im Spannungsfeld von Provokation und Diskriminierung. In: Literarischer Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Nicola Gess. Berlin, New York 2012, S. 315-333.

Öhlschläger, Claudia: Abstraktion im Licht der Faszination. In: Literarischer Primitivismus im frühen 20. Jahrhundert. Hg. von Nicola Gess. Berlin, New York 2012, S. 59-73.

Read, Peter: Picasso et Apollinaire: Les Métamorphoses de la mémoire 1905/1973. Paris 1995.

Stepan, Peter: ‘Primitivismus‘. Sechs Thesen zu einem unzeitgemäßen Thema. In: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde 54 (2008), S. 223-228.

Theil, Harald: Bild und Gefäß. Studien zu den Gefäßkeramiken Pablo Picassos. Diss. Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 2007. Internetpublikation hier, aufgerufen am 01.09.2013.

Westheider, Ortrud: Picassos Bestiarium. Zwischen Krieg und Frieden. In: Picasso und die Mythen. Hg. von Ortrud Westheider. Hamburg 2002.

Abbildungen

Picasso, Pablo: Stier, 5.12.1945 – 17.1.1946, Lithografie. © Succession Picasso / VG Bild-Kunst. Bonn 2005.


[1] Das ‚Primitive‘ ist mithin kein Objekt, kein imaginärer Gegenstand der Anschauung, sondern eine (zeitliche) Kategorie. Primitivismus bezeichnet nicht etwa „eine Geschichte der Kunstformen der Naturvölker, sondern den Diskurs über die Wahrnehmung und Rezeption ‚primitiver Kunst‘“ (Öhlschläger 2012, 61), d. h. das Phänomen der Rezeption der Kunstformen von Naturvölkern als ‚primitiv‘, immerhin aus einem ethnozentrischen Standpunkt und bedingt durch die ethnologische Forschung.

[2] Allerdings sei der „immer wieder gern weggeredete, aber unübersehbare Afrikanismus dieses Gemäldes […] Teil einer Strategie des Anti-Ästhetischen, der bewußten Verhäßlichung als Arznei gegen die Konventionen der beaux-arts (Stepan 2008, 223).

[3] Ortrud Westheider stellt fest, dass „Picassos künstlerisches Bestiarium immer mit den Themen Kampf, Opfer, Tod, Krieg und Frieden in Verbindung steht. Für Picasso war das Tier ein Orakel des menschlichen Schicksals. Die Vorbilder reichen in die Antike zurück“ (Westheider 2002, 175).

Was der ruhelose Geist eines kapitalistischen Katers zu erzählen hat

Tiere in Robert Grötzschs Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten

Von Julia Eckert

Neben dem durch unreflektierten Patriotismus, offen glorifizierten Militarismus und nationalistisches Gedankengut geprägten Großteil der Kinder- und Jugendliteratur im preußischen Kaiserreich (vgl. Wild 1990, 179), der durch eine die realen Lebensverhältnisse verschleiernde und sich vor allem an jüngere Rezipienten richtende ‚Heile Welt‘-Literatur ergänzt wurde (vgl. ebd., 180), entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts erste Formen von sozialistischer Literatur für Kinder und Jugendliche. Einerseits wies diese durch Forderungen nach künstlerischem Anspruch und poetischem Eigenwert der Texte Berührungspunkte mit der Jugendschriftenbewegung auf, die einen an den impliziten Kriterien klassisch-humanistischer Ideale ausgerichteten Kinder- und Jugendliteraturkanon favorisierte. Andererseits ergaben sich in puncto inhaltliche Ausgestaltung Differenzen zwischen den Befürwortern einer eigenständigen Literatur für die Jugend der unteren Gesellschaftsschichten und Anhängern der Jugendschriftenbewegung. Letztere sprachen sich 1906 deutlich gegen Tendenzschriften im engeren Sinne aus (vgl. Wolgast o.J., 282–283)[1], wodurch nicht nur mehrheitlich abgelehnte Richtungen wie die wilhelminische Ideologie, sondern potenziell auch sozialistische Tendenzen als unerwünscht gelten konnten. Während die Befürworter weltanschaulicher Neutralität wie Karl Kautsky eine in ausreichendem Maße ausgebildete kritische Rezeptionsfähigkeit in Bezug auf politisierte Literatur bei der Zielgruppe bezweifeln (vgl. Marquardt o. J., 83) und etwa Heinrich Schulz die Kindheit als ideologielose Zeit begreift und diesen Zustand als schützenswert erachtet (vgl. ebd.), so streben die Befürworter sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur Texte an, die sich unter anderem „gegen bürgerliche Tendenzen, d.h. gegen jedwede Ideologie in Form von Religion und idealistischer Wissenschaft sowie gegen Chauvinismus und Imperialismus wenden“ (Marquardt o. J. 90). Clara Zetkin, eine Vertreterin der Befürworter einer speziell auf die Lebenssituation von proletarischen Kindern und Jugendlichen zugeschnittenen Literatur mit sozialistischer Grundlinie verteidigt den Begriff der Tendenz im Allgemeinen am Anfang eines Textes über Ferdinand Freiligrath:

Die Geschichte der Kunst straft freilich die Worte Lügen, welche die ‚Tendenz‘ im Reiche des Schönen ächten sollen. Sie weist aus, daß zu allen Zeiten der geistige Gehalt großer sozialer Bewegungen und Kämpfe Schöpfungen von höchstem und dauerndem künstlerischem Wert Leben und Gestalt verliehen hat. [Zetkin 1907/10 [1955], 80]

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Zetkin der Kunst im Kontext des Klassenkampfes eine zentrale Rolle zuweist (vgl. Zetkin 1910/11 [1955], 102–103). Zudem postuliert sie Kunstausübung als menschliches Charakteristikum im Gegensatz zum Tier:

Es ist eine Tatsache, daß die Kunst eine alte, urwüchsige geistige Lebensäußerung der Menschheit ist. […] Kaum daß der Mensch sich von der Tierheit loszulösen beginnt, daß geistiges Leben in ihm die Augen aufschlägt, regt sich in ihm der künstlerische Schöpfungsdrang und läßt eine ganz einfache, rohe Kunst entstehen. [Zetkin 1910/11 [1955] 102]

 Die Frage nach den Voraussetzungen für die Produktion und Distribution von Literatur für die proletarische Jugend, nach Aspekten ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und Anforderungen an formal-ästhetische Gesichtspunkte wird zunehmend zum Inhalt parteipolitischer Diskussionen. Ein Meilenstein der sozialdemokratischen Auseinandersetzung mit Schulwesen, Erziehungsfragen und Bildungspolitik ist der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1906 in Mannheim. In den bereits im Vorfeld von Clara Zetkin und Heinrich Schulz veröffentlichten „Leitsätze[n] zum Thema ‚Volkserziehung und Sozialdemokratie‘“ (Christ 1975, 13) wird der Partei im vierten Leitsatz die Aufgabe zugewiesen, „eine geeignete sozialistische Kinderliteratur“ (ebd., 17) zu schaffen, was – auch wenn diese Forderung nicht überall auf Zustimmung stößt und nicht neu ist – die ungebrochene Priorität der Jugendlektüre-Frage unterstreicht. Clara Zetkin fordert auf dem Parteitag in Mannheim, die bisherigen Anstrengungen bürgerlicher Jugendreformpädagogen hinsichtlich einer Steigerung des künstlerischen Niveaus der Kinder- und Jugendliteratur auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten vor dem Hintergrund sozialistischer Werte kritisch zu prüfen (vgl. Zetkin 1906 [1986], 63) und künftig auch die bislang nicht thematisierten „sozialen Tugenden, welche der proletarische Klassenkampf gebiert und bedarf und die auf der Grundlage unserer sozialistischen Weltanschauung entstehen“ (ebd., 64) in eine genuin sozialistische Literatur für eine junge Zielgruppe zu integrieren.

Zu den heute nicht mehr breit rezipierten frühen Vertretern von sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur zählt Robert Grötzsch, als Klempner zunächst selbst im Arbeitermilieu tätig, bevor er politische Glossen und literarische Texte verschiedener Genres veröffentlicht (vgl. Weiß/Wonneberger 1997, 65). Zu seinen Kinderbüchern, die im Verlag Kaden & Companie erscheinen, der von dem SPD-Politiker August Kaden 1898 gegründet wurde und in zahlreichen Publikationen eine sozialdemokratische Linie verfolgte (vgl. Altner 2001, 80–81), zählt sein literarisches Debut Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten. Geschichten für Arbeiterkinder (1908). Als Sammlung politischer Märchen und Erzählungen steht der Text in der Gattungstradition von Der große Krach von Friedrich Gottlieb Schulze (1875), der als Beginn der sozialistischen Kinderliteratur gilt (vgl. Wild 1990, 215)[2]. Darüber hinaus enthält Nauckes Luftreise auch sozialkritische Erzählungen mit geschichtlichem Hintergrund und Darstellungen phantastischer Ereignisse. Der Dresdner Grafiker Robert Langbein (vgl. Altner 2001, 108) schuf die aufwendigen Illustrationen zum Text.

Den Beginn des Textes, der eine Art Prolog zur Entstehung der folgenden Erzählungen darstellt, markiert eine spukhafte Zusammenkunft: Der Kater Murr Dyckerpott, Trippeltritt, ein ehemaliges Straßenbahnpferd, ein sogenannter Germunizwerg, ein Stock aus Eichenholz sowie der alte Affe Hukupukl treffen sich nachts kurz vor Morgenanbruch im Wald und beklagen jeweils ihr Leid. Kurz darauf stoßen noch ein Finger, der sich aus der Erde bohrt, der titelgebende Naucke mit seinem Drachen, ein Junge, dem ein Finger fehlt, ein Junge mit Husarenuniform in der Hand sowie ein Mädchen hinzu, die ebenfalls jeweils einen starken Erzähldrang zeigen. Der zufällig hinzuspazierte Autor Rebold Federkiel nimmt sich der merkwürdigen Gesellschaft an und zeichnet ihre jeweiligen Geschichten auf. Erinnert dieser Anfang durch seine Konstruktion der Situation des Erzählens an die Rahmenhandlung eines Novellenbandes, in der innerhalb einer Gesellschaft zum Zeitvertreib Geschichten erzählt werden, so wirkt der Ort des Geschehens wie aus dem Genre der Gothic Novel. Der zunächst um Ruhe bittende Finger macht darauf aufmerksam, dass sich Menschen, Tiere, Dinge und Fantasiewesen „über einem ehemaligen Kirchhofe“ (NL 5) befinden. Doch damit nicht genug – die Tiere eint noch eine viel schauerlichere Begebenheit: Sie sind alle drei tot.

Trippeltritt figuriert hierbei den durch die technische Entwicklung obsolet gewordenen Arbeiter, dem nach einem mühevollen Leben nur Armut und gesellschaftlicher Undank bleibt. In Hukupukl hat der Typus des ewigen Lügners eine tierische Verkörperung gefunden, denn der Affe muss mit der Schuld leben, seinen naiven Enkel Jokopukl durch Geschichten von paradiesischen Zuständen bei den Menschen zu einer Flucht aus dem Urwald animiert zu haben, die in einer zeitweiligen Existenz in Gefangenschaft als Jahrmarktbelustigung ihren Gipfel fand. Die Geschichten dieser beiden Tiere sind fast ohne narrative Brüche ganz im Sinne der sozialistischen Ideologie gestaltet. Dabei werden die jungen Rezipienten einerseits mit der Trübseligkeit der damaligen Lage des Proletariats konfrontiert, wenn der mit der Hervorbringung der Klage der Straßenbahnpferde bei den Menschen beauftragte Hengst nach seiner Rückkehr von erfolgloser Mission resigniert konstatieren muss:

„Verlaßt euch nicht auf die Menschen, Kameraden. Diese zweibeinigen Geschöpfe stecken viel tiefer im Jammer als wir! Die müssen sich [Hervorh. im Orig.] erst aus der Klemme helfen, ehe sie für uns etwas tun können … “ [NL 78]

Andererseits glorifizieren viele Geschichten den Kampfgeist, den die Arbeiterklasse im vereinigten Kampf gegen die herrschende Oberschicht aufbringen muss, um der Zielgruppe die Notwendigkeit politischen Agierens zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse deutlich zu machen. Während im Zwergenland etwa Streik zum Umsturz der Machtverhältnisse führt, ist Jokopukls Heimat durch die Nichtexistenz von Privatbesitz der menschlichen Daseinswelt einen Schritt voraus, doch noch nicht am Ziel des allgemeinen Wohlstandes angelangt. Jokopukl spricht eine Schelte gegenüber der Tatenlosigkeit der Menschen aus:

„Das eine steht jedenfalls fest: wenn ich ein Mensch wäre, würde ich mich gegen alles Unrecht so lange rühren, bis es sich auf der Erde wirklich so schön leben ließ, wie uns der verstorbene Hukupukl bisher vorgeschwindelt [Hervor. im Orig.] hat.“ [NL 116]

Das Gegenteil des gegenüber menschlicher Gewalt und Willkür machtlosen Tieres findet in der Figur des Katers Murr Dyckerpott seine literarische Ausgestaltung, der zu Lebzeiten einem Fabrikbesitzer zulief und immer mehr selbst zum Kapitalisten wurde. Die Darstellung seiner Geschichte ist sowohl etwas ‚sperriger‘ vor dem Hintergrund einer streng sozialistischen Weltanschauung als auch facettenreicher in der Ausgestaltung des Innenlebens und der Handlungsmotive der Charaktere. Obwohl auch die anderen Tiere einem Menschen ihre Geschichte erzählen müssen, hat dieser Bericht bei Murr explizit den Charakter der Lebensbeichte. Als Spukexistenz findet er keine Ruhe, bis er vor einem Menschen Beichte über seine Untaten ablegen kann (vgl. NL 3). Auffällig für ein sozialistisches Kinder- und Jugendbuch ist hier die theologische Metaphorik. Auch wenn Murr keinen Geistlichen aufsuchen muss, so erwartet er doch Absolution durch den Akt des Erzählens vor einem Menschen.

Insbesondere bei ihm wird der Zustand des Verstorbenseins mit Attributen des Todes wiederholt in die Erinnerung des Rezipienten gerufen: Er riecht „stark nach Balsam und Sargholz“ (NL 3) und darf seine Geschichte als Erster erzählen, da er „‚wieder in seinen Sarg zurück muß, noch ehe der Friedhofswärter den Dienst antritt.‘“ (NL 6) Die Heranführung von Kindern an die Weltsicht des Sozialismus erfolgt nach Clara Zetkin „dadurch, daß wir das Kind lehren, allmählich in der Betrachtung der Natur und aller natürlichen Dinge jeden übersinnlichen außerhalb der natürlichen Welt stehenden Einfluß auszumerzen und auszuscheiden“ (Zetkin 1906 [1986] 55). Murrs letztendlich ewige Existenz als Spukgestalt verträgt sich schlecht mit der Theorie des Materialismus. Natürlich ist hier zwischen empirischer Realitätserfahrung in erkenntnistheoretischer Hinsicht einerseits und einer literarisch konstruierten Welt mit eigenen Gesetzmäßigkeiten zu unterscheiden, doch überrascht es dennoch ein wenig, dass die märchenhafte Form vieler der Texte in Nauckes Luftreise, durch welche der sozialkritische Inhalt unter Umständen bereits eine ästhetische ‚Brechung‘ erfahren kann, noch zusätzlich durch Elemente einer Spukgeschichte gerahmt wird.

Die Erzählung Murr Dyckerpott selbst zeichnet in Nauckes Luftreise ein groteskes Bild kapitalistischer Dekadenz: Bürgerliche Eigentums- und Besitzverhältnisse werden durch das Testament des Fabrikbesitzers Dyckerpott pervertiert, in dem sein Kater zum Erben ernannt wird, dieser bis zu seinem Ableben gepflegt werden muss und das Restvermögen dann dem „‚Stift für verarmte adlige Jungfrauen‘“ (NL 10) vermacht werden soll. Da es fortan nur noch die Gruppe der aus seinem Fortleben Gewinn schlagenden und die diejenige der von seinem Tod profitierenden Menschen gibt, wird Murr so misanthropisch wie sein verstorbener Besitzer. Während die rapide Gewichtszunahme des Katers, der sich der Statur seines Besitzers Dyckerpott angleicht (vgl. NL 9), als Zeichen schwindender Vitalität der Bourgeoisie gelesen werden kann, ist seine zunehmende ‚Vermenschlichung‘ als Prozess der Verrohung dargestellt. Durch Arroganz gegenüber seiner Umwelt verlernt Murr nach und nach tierische Verhaltensweisen, wobei die Affirmation des Kapitalismus als lediglich oberflächliche ‚Veredelung‘ dargestellt wird, als deren unvermeidliche Kehrseite der Sadismus – Murr lässt Hunde vom Diener mit Steinen beschießen und erfreut sich an deren Schmerzen (vgl. NL 13) – auftritt:

Kurz: der Reichtum machte Murr äußerlich [Hervorh. im Orig.] fein, vornehm im Benehmen – aristokratisch, sagte der Diener. […] Murr pfauchte nur noch ganz selten, miaute überhaupt nicht mehr, spazierte aufrecht, steifbeinig und langsam, verlernte das Umherschielen und lauernde Umherkriechen, das ärmere Katzen so unsympathisch macht, und streifte überhaupt all die verhungerten Manieren ab, die andere in Nahrungssorgen lebende Geschöpfe so auffällig an sich tragen. In seinem Denken und Empfinden aber wurde Murr immer eingebildeter, gefühlloser und roher gegen andere, je mehr ihm seine Umgebung schmeichelte. [NL 13]

Die Kopie des menschlichen aufrechten Ganges und der Manieren der Reichen macht den Kater zu einer grotesk überzeichneten Persiflage eines Kapitalisten. In der ersten Illustration zu Murr Dyckerpott ist der übergewichtige Kater zu sehen, der vor der Dyckerpottschen Villa aufrecht stehend mit erhobener Tatze Auftreten, Haltung und Gebärden eines Menschen aus der Oberklasse imitiert:

Götsch_01[Abbildung 1]

Im Gegensatz zu fast allen anderen Vertretern der herrschenden Klasse in Nauckes Luftreise ist Murr jedoch nicht komplett eindimensional negativ dargestellt. An ihm zeigt sich die Einsamkeit und Tristesse der Oberschicht, obwohl die Erzählhaltung natürlich ganz im Sinne sozialistischer Ideologie keinen Zweifel daran lässt, dass es sich hierbei nicht um ein bemitleidenswertes Phänomen handelt. Entsprechende Szenen lassen sich nicht vollkommen unter die literarische Vermittlung der Weisheit, dass Geld allein auch nicht glücklich macht, subsumieren. Murr wird in Ansätzen auch individueller Freiraum zugestanden. So ist der Beginn eines danach häufiger praktizierten, absurden Pseudo-Such-Rituals, das in gewisser Weise Murrs skurrile Antwort auf die Jagd als Oberklassensport ist, noch im Bereich des Authentischen verwurzelt. Murr sehnt sich nach Ruhe und Abstand: „So versteckte er sich einst hinter dem wilden, rankenden Weine der Veranda, um einmal ungestreichelt und ungehütet zu träumen.“ (NL 14)

Die Reue des geplagten Gespenster-Katers über seinen Lebenswandel setzt erst im Jenseits ein und kommt damit im Sinne marxistischer Philosophie eindeutig zu spät. Die auf einer Illustration zu sehende Inschrift auf dem Dyckerpottschen Grabstein, mit welcher Murr Dyckerpott endet, ist nicht nur für die Armen im Text, sondern auch für die jungen Rezipienten nur als Ausdruck des puren Zynismus zu deuten:

Götsch_02[Abbildung 2]

Im letzten epilogartigen Kapitel von Nauckes Luftreise muss Rebold Federkiel als Angeklagter sein Buch Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten vor einem Richter verteidigen, wobei der Großteil der merkwürdigen Gesellschaft vom Anfang des Textes zu seiner Verteidigung als Zeugen auftritt. Als Murr sein vorheriges Leben bereut und sich darüber beklagt, dass ihm keine Ruhe zuteilwerde, wendet sich der Richter lapidar mit dem Hinweis, dass sein Jammern keinen Sinn mehr habe, da es zu spät sei, dem nächsten Zeugen zu (vgl. NL 128). Vergebung ist in Grötzschs Text für Kapitalisten und ehemals kapitalistische Kater nicht vorgesehen. Am Ende steht mit der wilden Verfolgungsjagd aller auf den unverbesserlichen notorischen Lügner Hukupukl bis in die Wüste ein humoristisches Bild, das einen sehr starken Kontrast zur unheimlichen Atmosphäre des Eingangskapitels bildet. Dass auch Murr Dyckerpott mit Ausdauer hinter dem Affen her rennt, zeigt den wahrscheinlich einzigen Vorteil seiner ewigen Existenz als Geist: Er spürt sein Gewicht nicht mehr.

Abbildungen

[Abbildung 1] Aus: Grötzsch, Robert: Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten. Geschichten für Arbeiterkinder. Zeichnerische Ausstattung von Robert Langbein, Dresden. Dresden-A.: Druck und Verlag von Kaden & Comp. o. J. [1908], S 8.

[Abbildung 2] Aus: Grötzsch, Robert: Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten. Geschichten für Arbeiterkinder. Zeichnerische Ausstattung von Robert Langbein, Dresden. Dresden-A.: Druck und Verlag von Kaden & Comp. o. J. [1908], S. 17.

Primärliteratur

Grötzsch, Robert: Nauckes Luftreise und andere Wunderlichkeiten. Geschichten für Arbeiterkinder. Zeichnerische Ausstattung von Robert Langbein, Dresden. Dresden-A.: Druck und Verlag von Kaden & Comp. o. J. [1908]

Sekundärliteratur                   

Altner, Manfred (Hg.): Das proletarische Kinderbuch. Dokumente zur Geschichte der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur. Dresden: VEB Verlag der Kunst 1988.

Altner, Manfred: Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik. Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris: Peter Lang 1991 (= Studien zur Germanistik und Anglistik 9).

Altner, Manfred: Sächsische Lebensbilder. Literarische Streifzüge durch die Lößnitz, die Lausitz, Leipzig und Dresden. 1. Auflage. Radebeul: Edition Reintzsch 2001.

Christ, Karl: Sozialdemokratie und Volkserziehung. Die Bedeutung des Mannheimer Parteitags der SPD im Jahre 1906 für die Entwicklung der Bildungspolitik und Pädagogik der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Bern: Herbert Lang und Frankfurt a.M.: Peter Lang 1975 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XI, Pädagogik, Bd. 24).

Kunze, Horst u. Heinz Wegehaupt (Hg.): Spiegel proletarischer Kinder- und Jugendliteratur 1870-1936. 1. Auflage. Berlin – DDR: Der Kinderbuchverlag 1985.

Marquardt, Valentin: Sozialdemokratische Jugendschriftendiskussion um die Jahrhundertwende. Ein Ansatz zur Grundlegung der Erziehung von proletarischen Kindern und Jugendlichen mit Hilfe des Mediums „Literatur“. Bielefeld: B. Kleine Verlag o. J. (= Wissenschaftliche Reihe 28).

Weiß, Johannes u. Jens Wonneberger: Dichter Denker Literaten aus sechs Jahrhunderten in Dresden. 1. Auflage. Dresden: Verlag Die Scheune 1997.

Wild, Reiner (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1990. [Darin: Eckhardt, Juliane: Imperialismus und Kaiserreich, S. 179-219.]

Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendliteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Hg. von Elisabeth Arndt-Wolgast und Walter Flacke. 7. Auflage. Worms: Verlag Ernst Wunderlich o.J.

Zetkin, Clara: Sozialdemokratie und Volkserziehung. [Bei diesem Beitrag handelt es sich um das Korreferat zum Referat „Sozialdemokratie und Volkserziehung“ auf dem Parteitag der SPD vom 23.-29. September 1906 in Mannheim. Der Lautstand wurde behutsam dem heutigen Sprachgebrauch angeglichen.] In: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29. September 1906 sowie Bericht über die 4. Frauenkonferenz am 22. u. 23. September 1906 in Mannheim. Berlin: Buchhandlung Vorwärts 1906, S. 347-359. In: Becker, Jürgen (Hg.): Die Diskussion um das Jugendbuch. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick von 1890 bis heute. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1986 (= Wege der Forschung 457), S. 47-65.

Zetkin, Clara: Kunst und Proletariat. In: ‚Die Gleichheit‘, 21. Jg., 1910/11, Beilage zu Nr. 8. In: Zetkin, Clara: Über Literatur und Kunst. Zusammengestellt und herausgegeben von Emilia Zetkin-Milowidowa. Berlin: Henschelverlag 1955, S. 100–114.

Zetkin, Clara: Ein Dichter der Revolution. In: ‚Die Gleichheit‘, 1910, Beilage zu Nr. 19, und 1907, Nr. 24. In: Zetkin, Clara: Über Literatur und Kunst. Zusammengestellt und herausgegeben von Emilia Zetkin-Milowidowa. Berlin: Henschelverlag 1955, S. 80–89.


[1] Die Vereinigten Deutschen Prüfungsausschüsse wenden sich auf einer Tagung 1906 gegen „Tendenz im Sinne des absichtlichen Werbens [Hervorh. im Orig.] für einen außerhalb der Kunst liegenden Zweck“ (Wolgast o.J., 283) und stellen klar, dass die Ablehnung von Tendenzliteratur nicht mit der Forderung nach kompletter Neutralität zu verwechseln ist: „Dichtungen, die bei voller Wahrung der Gesetze künstlerischen Gestaltens zugleich eine religiöse, moralische oder patriotische Wirkung [Hervorh. im Orig.] auf den Leser ausüben, sind, sofern sie im übrigen der Aufnahmefähigkeit jugendlicher Leser gerecht werden, als Jugendlektüre unbedingt zu empfehlen.“ (ebd.).

[2] Hier differieren die Angaben in der Sekundärliteratur: Auch Altner sieht 1988 in einer DDR-Publikation zum proletarischen Kinderbuch Der große Krach als erstes sozialistisches Kinderbuch (vgl. Altner 1988, 35; 543), während Kunze/Wegehaupt in ihrer DDR-Publikation zur proletarischen Kinder- und Jugendliteratur Ein Märchentraum. Die Königin der Arbeit beim Feste der Zwerge im Erdschatzreiche (1870) von F. S. Liebisch nennen (vgl. Kunze/Wegehaupt 1985, 17). Altner selbst wiederum schreibt in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1991: „Die bereits vor der Jahrhundertwende beginnende Entwicklung [zu einem Neuansatz des Märchens, Anm. JE] durch Franz Seraph Liebigs ‚Ein Märchentraum‘ (1870) setzte sich über den Dänen Carl Ewald (1856–1908) und Robert Grötzsch (1882–1946) bis zum ersten Weltkrieg und auch danach noch fort.“ (Altner 1991, 184).

Der in eine Grasmücke verwandelte Zaunkönig

Zu einem Titelkupfer-Gedicht Sigmund von Birkens

Hans Peter Ecker zum 60. Geburtstag

von  Hartmut Laufhütte

In den Jahren 1675 und 1679 erschienen in Frankfurt am Main die beiden Hauptteile des berühmten kunsttheoretischen und -historischen Lehrwerkes L’Academia Todesca Oder Teutsche Academie der Edlen Bau– Bild– und Malerey-Künste Joachim von Sandrarts (1606-1688), 1675, 1679 und 1680 drei Ergänzungswerke.[1]

Am Erscheinungsbild der 1675 erschienenen Teile des Werkes[2] hat der Nürnberger Dichter und Historiograph Sigmund von Birken (1626-1681) erheblichen Anteil; zu diesem und den späteren hat er überdies eine stattliche Anzahl von Gedichten beigesteuert.[3] Als Abschluß der Vorrede und Erklärung des Titelkupfers des dritten Teils des zweiten Hauptteils – das ganzseitige Bild stellt Athene / Minerva als Schutzgottheit der Wissenschaften und Künste dar – ist dieses Gedicht Birkens gedruckt:[4]

                   Die Kunstvorsteherin
                             Pallas
–            redet/ vom KupferTitelblat
–                dieses Dritten Theils/
           Zur Kunstliebenden Jugend.

Komm/ Jugend/ die du trägst das Feuer in den Sinnen/
den Pinsel in der Hand. Jch/ Haupt der Pierinnen/
ich Pallas führe dich in diesen Kunst-palast/
wo du des Geistes Speiß in Mäng zu finden hast.
Auf/ schwing dich über dich/ kreuch nicht so an der Erde.                                   (5)
Reit/ wie Bellerofon/ auf unsrem Pegas-Pferde/
und flieg den Sternen zu/ setz Adler-Augen ein:
Du must sonst/ Dürer nicht/ ein Albrer Tüncher seyn.
Ein Mensch/ des Himmels Kind/ soll nach dem Himmel fliegen.
Jhr Ursprung kan allein die hohe Seel vergnügen.                                                (10)
Wer nicht geht immerfort/ Wer steht/ der geht zurück.
Bleib vor der Pforte nicht/ tritt ein/ und such dein Glück/
der Kunst Vollkommenheit. Hier lerne recht beseelen
die Kunst, die Poesy der Mahlerey vermählen/
das Leben mit der Farb. Hier ist der grosse Saal/                                                 (15)
da deine Sinnen schärft die dreygedritte Zahl/
der Hauf der Künstinnen/ die hoch-erleuchte Schule.
Hier such und mach amour, hier/ Männer-Jugend/ buhle/
setz die Gedanken hoch. Mach Göttinnen dir hold/
des Mägde-Pöbels lach/ nicht wehle Bley für Gold.                                             (20)
Man sagt/ das VögelVolk einst einen Reichstag hielten:
Einn König über sich sie zu erwehlen zielten/
und dieser solt es seyn/ den seiner Flügel Zug
am höchsten tragen würd in windgeschwindem Flug.
Was hatte da zu thun die Grasmück/ ô die schlaue?                                           (25)
Sie dacht: den Schwingen hier/ den schwachen/ ich nicht traue.
Jch bin auch klein: jedoch ist groß mein hoher Muht.
Es kan oft thun die List/ was die Gewalt nicht thut.
Als nun der Adler flog/ saß sie ihm auf den Nacken/
und als unsichtbar-hoch er schwung die Flügel-Flacken/                                   (30)
flog sie noch über ihn: ihr nutzte diese List/
daß sie im Fittig-Reich noch König heißt und ist.
O Jüngling/ folge nach! Schau hier den Adler fliegen/
den König dieser Kunst/ Er liebet diß Betrügen/
siht gern/ wann nach der Höh dein Pinsel trägt begier.                                     (35)
Er will daß du durch das/ was er dir schreibet für/
was dir sein Sinn gebahr/ durch diese Künste-Regeln/
mögst über Jhn hinauf bis an die Wolcken segeln.
Er bricht allhier die Bahn: geh du auf diesem Weg.
Das End von deinem Lauf/ wird seyn der Sternen-Steg.

                                              Der Erwachsene

Das Gedicht ist – als einziger der zahlreichen von ihm gelieferten Gedichttexte im ganzen Werk – durch die Unterschrift als von Sigmund von Birken verfaßt deklariert.[5] Aus Repräsentationsgründen hat er mit dem Namen unterzeichnet, den er als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft führte.[6] Sein letztes Arbeitsbuch, das sich erhalten hat, weil er vor der vorgesehenen Übertragung der in ihm enthaltenen Gedichte in die verschiedenen nach Gegenständen und Adressatengruppen separierten Sammlungen gestorben ist,[7] das Buch S. v. B. Dichterey-Sachen, enthält eine von Birken selbst dem November 1679 zugewiesene handschriftliche Version des Gedichtes; sie hätte in die Sammlung S. v. B. Birken-Wälder aufgenommen werden sollen.[8] Das Manuskript ermöglicht die Korrektur mehrerer Fehler der pompösen, aber wenig sorgfältigen Druckfassung.[9]

Die Adhortatio der Musenvorsteherin an die künftigen Maler ist in heroischen Alexandrinern ausgeführt. Im ersten Teil (v. 1-20) und im Schlußabschnitt (v. 33-40) nimmt ihre Rede innerhalb des Sandrartischen Lehrwerkes auf ebendieses bezug: in den Palast- und sonstigen Gebäudemetaphern dort (v. 3, 12, 17), in den Ortsadverbien dort (v. 13, 15, 18) und hier (v. 33, 39). Zuletzt wird das Werk gar ausdrücklich benannt: durch diese Künste-Regeln (v. 37). Die Adhortatio ist zunächst in den Anreden und Kontrastierungen des ersten Gedichtteils präsent. Nach der Präsentation eines Gleichnisses, das beispielhaftes Verhalten vorstellt (v. 21-32) kulminiert sie dann im Schlußabschnitt (v. 33-40).

Der erste Teil trägt damals geläufige Ansichten vor und arbeitet mit geläufigen Bildern. So ist das Feuer (v. 1) ein übliches Bild für Inspiration und geistige Aktivität; in Gedichten Birkens wird es immer wieder verwendet.[10] Varianten der Nahrungsmetapher für das Material, an dessen Bearbeitung sich geistige bzw. künstlerische Fähigkeiten ausbilden (v. 4), sind ebenfalls häufig anzutreffen.[11]

In der Folge der Verse 5-8 sind mehrere Motive und Bilder kombiniert: Die Aufforderung, nicht an der Erde zu kleben, sondern sich in geistiger bzw. künstlerischer Tätigkeit zu erheben, ist seit der Antike geläufig und auch in Birkens Gedichten immer wieder anzutreffen.[12] Hier wird die Ermahnung spezifiziert durch die Aufforderung an die Malereiadepten, es dem korinthischen Heros, Chimärentöter und Himmelsstürmer Bellerophon gleichzutun, dem es gelungen war, das Flügelroß Pegasos zu reiten, das den Musenquell Hippokrene freigescharrt hatte: alles in vielen Gedichten Birkens verwertet.[13] Der Sternenhimmel, den ins Spiel zu bringen von beiden Bildfeldern her nahelag, ist ein vielverwendetes Bild für die Ewigkeit. Hier ist die Aufforderung an den künstlerischen Nachwuchs, sich den Sternen zu nähern, eine motivierende Lockung mit dem Ewigkeitsruhm, den künstlerisches Schaffen dem Künstler selbst und den in seinen Werken Gefeierten gewähre: ein Zentralmotiv der impliziten Poetik zahlreicher Gedichte Birkens.[14] Zu all dem fügt sich der Hinweis auf den Adler, von dem man glaubte – und u. a. darin seinen Rang in der Tierwelt und seine Eignung als Sinnbild sah –, er allein könne in die Sonne blicken, verjünge sich dadurch und leite auch seine Jungen zur Ausbildung dieser Fähigkeit an. Zur Verdeutlichung des Zieles, auf das es hinzustreben gilt, wird der damals als der größte unter den deutschen Malern geltende Albrecht Dürer ins Spiel gebracht, aber auch die Gegenposition, die einzunehmen bleibe, wenn es am Streben nach den Sternen fehle.

Die Verse 9f. fassen die Tendenz der voraufgegangenen Rede der Pallas prägnant zusammen und fügen das bisher überwiegend mythologisch Verbildlichte in einen auch christlich akzeptablen Bedeutungsrahmen – für Birken absolut notwendig –: Das höchste dem schöpferischen Menschen im Diesseits erreichbare Ziel ist eine Art des Schaffens, die im Rahmen des auf Erden Möglichen dem Schaffen Gottes entspricht. Das kann sich vollziehen als weises politisches Handeln – die Herrscher und Regenten der Zeit sahen sich und galten als Stellvertreter und Sachwalter Gottes auf Erden – oder als künstlerisches Gestalten. Gottesdienst war es immer. Beide Arten des Handelns näherten die Seele des solcherart Handelnden schon zu Lebzeiten ihrem „Ursprung“ (v. 9) an, wie Birken nicht nur hier behauptet.[15] Die Wahrnehmung der Vollkommenheit des Kunstwerks, die Sandrarts Werk ermöglicht (v. 13), die in der Analogie zur Vollkommenheit der Schöpfung Gottes besteht, ist das höchste im Diesseits vom schöpferischen Menschen erfahrbare Glück (v. 12).

An konkreterer Programmatik fehlt es freilich auch nicht. Die Verse 13-15 lassen erkennen, daß dem Autor Harsdörffers Konzept der Gemeinschaft, des Zusammenspiels der Künste wohlvertraut war.[16] Die Verbildlichung des Verhältnisses des Kunstadepten zu seiner durch die Musen repräsentierten Kunst (v. 18-20) als Liebesverhältnis begegnet sowohl in der Sandrartschen Academie als auch in Birkens Gedichten mehrfach.[17] In den Kontrastierungen der Verse 19f. erhält der erste Gedichtteil einen Abschluß, der denjenigen der Versgruppe 5-8 aufnimmt und verstärkt.

Der interessanteste Teil des Gedichtes bzw. der das Ganze strukturierenden Adhortatio beginnt mit v. 21. Eine damals wie heute bekannte Fabel wird dem didaktischen Anliegen des Gedichtes bzw. demjenigen des Sandrartschen Werkes dienstbar gemacht. Es ist die Fabel / das Märchen vom kleinen Zaunkönig, der den großen und mächtigen Adler überlistet und statt seiner zum – wenn auch nicht von den anderen Vögeln anerkannten – König derselben avanciert. Nach Plutarch, der die Geschichte knapp andeutet, handelt es sich um eine Äsopische Fabel.[18] In den verschiedenen Sammlungen Aesop zugeschriebener Fabeln kommt diese aber nicht vor. Daß sie alt ist, erweist freilich die Tatsache, daß schon Aristoteles von der Feindschaft zwischen Adler und Zaunkönig weiß.[19]

Kaum ausführlicher als Aristoteles ist Plinius, der im Buch X der Naturalis historia im Kapitel über die Vögel mitteilt:

Sunt enim quaedam iis bella amicitiaeque, unde adfectus, praeter illa quae de quibusque eorum suis diximus locis. dissident olores et aquilae, corvus et chloreus noctu invicem ova exquirentes, simili modo corvus et miluus, illo praeripiente huic cibos, cornices atque noctua, aquilae et trochilus, si credimus, quoniam rex appellatur avium […].[20]

Aus dem 12. Jahrhundert stammt diese Erzählung:

Condixerunt inter se aves, ut illa regiae celsitudinis gloriam sortiretur, quae sublimi volatu omnes alias vinceret. Parra igitur sub ascella aquilae latitans opportunitatem ex tempore nacta est. Cum enim aquila Jovis penetralibus vicinior dominium sibi vendicaret, ausa est parra capiti aquilae insidere, victricem se esse asserens.[21]

Wir wissen nicht, wie gut die ornithologischen Kenntnisse des Autors waren; schwerlich aber wird er den listigen Geniestreich der Schleiereule oder dem Grünspecht zugetraut haben.[22]

Eindeutig um den Zaunkönig geht es in dem deutschsprachigen Gedicht Der Vögel Gespräch, das die bis dahin ausführlichste Erzählung von der Überlistung des Adlers durch den Zaunkönig bietet.[23]

In der Emblematik des 16. Jahrhunderts ist Bekanntheit der Erzählung ebenso kenntlich wie beim Jesuitendramatiker Jacob Bidermann.[24]

Auch Schiller setzt Bekanntschaft mit ihr bei Zuschauern und Lesern voraus, wenn er 1781 in der zweiten Szene des ersten Aufzugs des unterdrückten Bogens B der Erstfassung seines Dramas Die Räuber den späteren Räuber und vermeintlichen Anführer der Bande, Moriz Spiegelberg, gegenüber dem noch reumütig auf die Verzeihung seines Vaters hoffenden Karl Moor renommieren läßt:

Bruder! Bruder! Itzt wollen wir erst anfangen zu leben. Danks deinem Kopf, daß ich dich brauchen kann. Du hängst dich an den Adler Spiegelburg wie der Zaunkönig und kommst mit ihm zur Sonne.[25]

Die Fabel war demnach in der griechischen und römischen Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit bekannt und für literarische Weiterverwendung verfügbar. Die Dokumentation von Bolte und Polívka erweist, daß sie nicht nur im europäischen Kulturkreis verbreitet war.[26]

In jüngerer Zeit ist die Zaunkönig-Fabel vor allem durch die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm bekannt geworden, allerdings erst in späteren Ausgaben.[27] Sie hat in dieser Erscheinungsform einen distanzierenden Rahmen –

In den alten Zeiten, da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. […] Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen, und bei einigen wie Musik ohne Worte.

– und ist mit zahlreichen ‚Übersetzungen‘ von Vogelstimmen und allerlei anderen Einlagerungen durchsetzt. Der eigentliche Vorgang, auch er recht aufgeschwellt, lautet:

Es kam aber den Vögeln in den Sinn, sie wollten nicht länger ohne Herrn sein und einen unter sich zu ihrem König wählen. […].

Die Vögel wollten sich nun über die Sache besprechen, und an einem schönen Maimorgen kamen sie alle aus Wäldern und Feldern zusammen, Adler und Buchfinke, Eule und Krähe, Lerche und Sperling, was soll ich sie alle nennen? Selbst der Kuckuck kam und der Wiedehopf, sein Küster, der so heißt, weil er sich immer ein paar Tage früher hören läßt; auch ein ganz kleiner Vogel, der noch keinen Namen hatte, mischte sich unter die Schar. […].

Es ward aber beschlossen, daß der König sein sollte, der am höchsten fliegen könnte. […].

Es ward nun beschlossen, sie wollten gleich an diesem schönen Morgen aufsteigen, damit niemand hinterher sagen könnte: „Ich wäre wohl noch höher geflogen, aber der Abend kam, da konnte ich nicht mehr.“ Auf ein gegebenes Zeichen erhob sich also die ganze Schar in die Lüfte. Der Staub stieg da von dem Felde auf, es war ein gewaltiges Sausen und Brausen und Fittichschlagen, und es sah aus, als wenn eine schwarze Wolke dahinzöge. Die kleinen Vögel aber blieben bald zurück, konnten nicht weiter und fielen wieder auf die Erde. Die größeren hielten’s länger aus, aber keiner konnte es dem Adler gleichtun, der stieg so hoch, daß er der Sonne hätte die Augen aushacken können. Und als er sah, daß die andern nicht zu ihm herauf konnten, so dachte er: „Was willst du noch höher fliegen, du bist doch der König“, und fing an, sich wieder herabzulassen. Die Vögel unter ihm riefen ihm alle gleich zu: „Du must unser König sein, keiner ist höher geflogen als du.“

„Ausgenommen ich“, schrie der kleine Kerl ohne Namen, der sich in die Brustfedern des Adlers verkrochen hatte. Und da er nicht müde war, so stieg er auf und stieg so hoch, daß er Gott auf seinem Stuhle konnte sitzen sehen. Als er aber so weit gekommen war, legte er seine Flügel zusammen, sank herab und rief unten mit feiner, durchdringender Stimmte: „König bün ick! König bün ick!“

Die Erzählung wird weitergeführt. Die anderen Vögel akzeptieren das erlistete Ergebnis nicht. So kommt es zu einem zweiten Wettbewerb: „Der sollte ihr König sein, der am tiefsten in die Erde fallen könnte.“ Abermals gewinnt der Namenlose, weil er – nur er ist dazu klein genug – in ein Mäuseloch kriecht. Daraufhin beschließen die anderen Vögel, ihn in diesem Loch gefangen zu halten; die Eule wird als Wache davorgestellt. Aber ihr Vorsatz, zum Schlaf immer nur das eine Auge zu schließen und mit dem anderen das Loch zu bewachen, wird schließlich von der Müdigkeit besiegt. So kann der Kleine entkommen, mit bösen Folgen für die Eule:

Von der Zeit an darf sich die Eule nicht mehr am Tage sehen lassen, sonst sind die andern Vögel hinter ihr her und zerzausen ihr das Fell. Sie fliegt nur zur Nachtzeit aus, haßt aber und verfolgt die Mäuse, weil sie solche böse Löcher machen. Auch der kleine Vogel läßt sich nicht gerne sehen, weil er fürchtet, es ginge ihm an den Kragen, wenn er erwischt würde. Er schlüpft in den Zäunen herum, und wenn er ganz sicher ist, ruft er wohl zuweilen: „König bün ick!“ Und deshalb nennen ihn die andern Vögel aus Spott Zaunkönig.

In dieser Erzählung ist das Zentralmotiv, die Überlistung des Adlers durch den kleinen Vogel, dem das seinen Namen einbrachte, durch die variierende Verdoppelung, die zahlreichen Vogelrufimitationen und die distanzierende Einleitung stark aufgeschwemmt: alles jüngeren Datums.

In Birkens Gedicht spielt nur das Kernmotiv eine Rolle. Welche Quelle seiner Einbeziehung der Fabel zugrunde gelegen hat, ist nicht zu erkennen. Es gibt auch nur diese eine Bezugnahme in seinem ganzen Werk.

Zwar erweist die Dokumentation von Bolte und Polívka, daß der listige kleine Vogel nicht in allen Varianten der Erzählung der Zaunkönig ist: Rotkehlchen, Kuckuck, Habicht, Nachtigall, Hänfling, Kolibri, sogar die Fledermaus können seinen Platz einnehmen.[28] Dennoch verwundert es zunächst, daß Birken, der sicher Plinius, vielleicht auch Der Vögel Gespräch gekannt hat, nicht den Zaunkönig, sondern „die Grasmück“ siegen läßt. Vermutlich war der Grund dafür die in einem alternierenden Rhythmus nicht behebbare Sperrigkeit des Wortes Zaunkönig. Es ist zu vermuten, daß der Austausch mit Bedacht vorgenommen worden ist, weil beide Vögel zur Singvogelgruppe der Pfriemenschnäbler gehören und sich zwar ein wenig hinsichtlich ihrer Größe, gar nicht aber hinsichtlich ihrer Lebensweise unterscheiden. Daß eigentlich doch der Zaunkönig gemeint ist, erweist v. 32.

Viel interessanter als die Umbenennung des kleinen Protagonisten in Birkens Adaption der alten Fabel ist die Funktionalisierung derselben, die er vorgenommen hat. Sie wird nach der – partiell als zitierte Rede der Grasmücke durchgeführten – Erzählung des Kernmotivs (v. 21-32) in den Versen 33-38 kenntlich. Plutarch hatte das Verhalten des Zaunkönigs als Negativbeispiel für das Verhalten eines jungen Politikers dargestellt. Birkens Verse präsentieren ein positives Vorbild. Sie enthalten die Aufforderung, sich von dem erzählten Beispiel zu einem Verhalten motivieren zu lassen, das der für die gesamte Kunstproduktion der Frühen Neuzeit maßgeblichen Strategie der aemulatio entspricht. Man hatte sich an den großen Vorbildern der Tradition zu orientieren und zu üben, um sie – verehrungsvoll – zu überbieten. Nicht nur Birkens lyrische Produktion verdankt ihre Eigenart, auch ihre partielle Neuartigkeit, diesem Bestreben. Das, was im 18. Jahrhundert in polemischer Abgrenzung der alten Ästhetik entgegengesetzt wurde, das – angeblich – von keiner Traditionsorientierung belastete und behinderte Schaffen aus eigener Gesetzlichkeit des produktiven individuellen Ingeniums, war gänzlich undenkbar. Der Leistungserweis aller Kunst bestand damals darin, daß sie sich fähig zeigte, die klassischen Vorbilder zugleich zu tradieren und zu überbieten und die eigene Produktion als temporären Höhepunkt in die Traditionskette einzureihen.[29]

Der Adler in Birkens Beispiel steht für Joachim von Sandrart, wie er in anderen Texten für Vergil, Horaz, Ovid, Aristoteles, Plato, Opitz und andere Größen stehen kann; und in der zaunköniglichen Grasmücke soll sich der angeredete Nachwuchskünstler erkennen. Es liegt in der Logik dieser Funktionalisierung der alten Fabel, daß der Adler nicht deswegen überwunden wird, weil er nicht mehr kann, und daß er seinen Überwinder nicht haßt und verfolgt und zu einem Leben im Unterholzgestrüpp zwingt, sondern daß er im Gegenteil des (noch) Kleineren Verhalten ausdrücklich begrüßt und gutheißt (v. 33-35). So kann am Ende deutlich ausgesprochen werden, worauf das Ganze hinausläuft: Wer als bildender Künstler etwas werden will, wird aufgefordert, das vom Meister Sandrart bereitgestellte Lehrbuch zu benutzen, um schließlich den Lehrer zu übertreffen und sich selbst wie jener der Ewigkeit einzuschreiben. Die Kunst selbst in Gestalt ihrer Schutzgottheit ist die für eine solche Aufforderung höchstlegitimierte Instanz.

Als Gratulationsgabe zum Festtag eines jüngeren ehemaligen Mitarbeiters, der längst selbst zu den Adlern gehört, aber wie auch der Gratulant einst ein listiger Zaunkönig gewesen ist, scheint mir die Erinnerung an diesen alten Appell besonders gut geeignet.


[1] Sämtliche Teile des Werkes sind in einem opulenten Nachdruck zugänglich: Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste. Nürnberg 1675-1680. In ursprünglicher Form neu gedruckt mit einer Einleitung von Christian Klemm. 3 Bde. Nördlingen 1994 und 1995.

[2] Das ist außer dem nachträglich ernannten ersten Hauptteil das Heft LebensLauf und Kunst-Werke Des WolEdlen und Gestrengen Herrn Joachims von Sandrart/ auf Stockau/ Hochfürstl. Pfalz-Neuburgischen Rahts: zu schuldigster Beehrung und Dankbarkeit/ beschrieben und übergeben von Desselben Dienst-ergebenen Vettern und Discipeln. Nürnberg/ Gedruckt bey Johann-Philipp Miltenbergern/ Jm Jahr Christi. 1675. Beide Werke sind in Bd. 1 der Neuausgabe enthalten.

[3] Sie sind mitgeteilt in Bd. 2 der Ausgabe: Sigmund von Birken. Werke und Korrespondenz. Hrsg. von Klaus Garber, Ferdinand von Ingen, Hartmut Laufhütte und Johann Anselm Steiger, mitbegründet von Dietrich Jöns (†) [künftig: WuK]. Zu Birkens Anteil am Erscheinungsbild des Werkes s. Christian Klemm: Joachim von Sandrart. Kunstwerke und Lebenslauf. Berlin 1986; ders.: Sigmund von Birken und Joachim von Sandrart. Zur Entstehung der Teutschen Academie und zu anderen Beziehungen von Literat und Maler. In: „der Franken Rom“. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 289-313.

[4]Der Teutschen Academie Zweyten Haupt-Theils Dritter Theil: Welcher zuvorderst Der Edlen Mahler-Kunst rechten Grund/ Eigenschafften/ und Geheimnisse/ durch gewisse Regeln/ Unterweis– und Beschreibungen erörtert []. Nürnberg/ Gedruckt bey Christian Siegismund Frobergern. ANNO CHRISTI M. DC. LXXIX. In der Neuausgabe in Bd. 2. Das Bild ist dem Titelblatt vorgefügt; das Gedicht steht auf S. 9f.

[5] Es gibt eine Ausnahme: In dem 1675 gedruckten, von Birken bearbeiteten Ergänzungsheft LebensLauf und Kunst-Werke (wie Anm. 2) hat Birken auf S. 15-17 seine schon in den frühen fünfziger Jahren verfaßten Epigramme auf Joachim von Sandrarts Monatsbilder und dessen Darstellungen von Tag und Nacht eingefügt. Die vierzehn Epigramme, deutschsprachige Bearbeitungen lateinischer Vorgaben von Caspar Barlaeus, die ebenfalls mitabgedruckt wurden, sind als Manuskriptfassungen (Texte Nr. 104 und 105) auch in Birkens Gedichte-Sammlung S. v. B. Birken-Wälder überliefert: WuK. Bd. 2, S. 132-136; 653-668. Im LebensLauf sind Birkens Gedichte so eingeführt:

Diesen Lateinischen Zeilen theils nachahmend/ hat folgender Zeit H. Sigmund von Birken/ Com. Pal. Caes. über solche schöne Erfindungen/ deme sie sonders wol gefallen/ dieselbigen damit bässer als Barlaeus exprimirend/ hiesige hochTeutsche Unterschrifften verfasset.

[6] In diese Gesellschaft war Birken 1658 aufgenommen worden; s. [Georg Neumark]: Der Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht/ Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang/ Absehn/ Satzungen/ Eigenschaft/ und deroselben Fortpflanzung/ mit schönen Kupfern ausgeziehret/ samt einem vollkommenen Verzeichnüß/ aller dieses Palmen-Ordens Mitglieder Derer Nahmen/ Gewächsen und Worten/ hervorgegeben Von dem Sprossenden. Zufinden bey Joh. Hoffman Kunsth. in Nürnb. Drukkts/ Joachim. Heinrich. Schmid in Weinmar/ F. S. Hof-Buchdr. (Nachdruck, hrsg. von Martin Bircher. München 1970), S. 401.

[7] Sigmund von Birken starb am 12.6.1681; ihm wurde diese Nachrufschrift gewidmet: [Martin Limburger]: Die Betrübte Pegnesis/ Den Leben/ Kunst- und Tugend-Wandel Des Seelig-Edlen Floridans/ H. Sigm. von Birken/ Com. Pal. Caes. Durch 24 Sinn-bilder/ in Kupfern Zur schuldigen Nach-Ehre/ fürstellend/ Und mit Gespräch– und Reim-Gedichten erklärend/ Durch ihre Blumen-Hirten. Nürnberg/ drukkts Christian Sigm. Froberg. Zu finden daselbst bey Joh. Jac. von Sandrart/ und in Frankfurt und Leipzig bey David Funken/ Kunst– und Buchhändlern. 1683. (Nachdruck der zweiten Auflage 1684 mit einem Nachwort von Dietrich Jöns. Hildesheim / New York 1993).

[8]S. v. B. Dichterey-Sachen: PBlO.B.3.2.1, S. 71f. Zu diesem Arbeitsbuch s. WuK. Bd. 1: Floridans Amaranten-Garte. Hrsg. von Klaus Garber und Hartmut Laufhütte. In Zusammenarbeit mit Ralf Schuster. Tübingen 2009, Einleitung, S. CXXXVII-CXL. In WuK. Bd. 2 (wie Anm. 3), Nr. 414, S. 476f., 1196f.

[9] In der Druckfassung heißt es in v. 16 ihre statt deine, in v. 23 der statt den, in v. 24 wird statt würd, in v. 30 erschwung statt erschwung, in v. 31 noch statt hoch. Wahrscheinlich wäre auch in v. 8 der Manuskriptbefund wirst (statt müst in der Druckfassung) vorzuziehen.

[10] Die Gedichte Nr. 247, 257, 418 und 419 der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (WuK. Bd. 2, S. 338f., 325f., 480 und 480-482; 904-907, 920-922, 1201 und 1202-1204) und Nr. 237 der Sammlung Floridans Amaranten-Garte (WuK. Bd. 1, S. 423-425, 872-876) enthalten die Feuer-Metapher schon im Titel oder in einem der ersten Verse.

[11] S. in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (WuK. Bd. 2) in den Gedichten Nr. 13, v. 47-49 (S. 19), Nr. 26, v. 12f. (S. 43) und Nr. 267, v. 16 (S. 339).

[12] Besonders bekannt sind die entsprechenden Passagen in den Einleitungsabschnitten der Schriften CatilinaeConivratio (1.1f.) und BellvmIvgvrthinvm (1.1-5) des Sallust; s. C. Sallvsti Crispi Catilina. Ivgvrtha. Fragmenta ampliora. Post A. W. Ahlberg edidit Alphonsvs Kvrfess. Editio tertia stereotypica. Lipsiae in aedibvs B. G. Tevbnerianis MCMLVII, S. 2, 53. In zahlreichen Gedichten Birkens finden sich Variationen dieses Motivs; s. z. B. WuK. Bd. 2, Nr. 1, v. 12 (S. 3), Nr. 2, v. 2f. (S. 4); WuK. Bd. 14 (Prosapia / Biographia. Hrsg. von Dietrich Jöns und Hartmut Laufhütte. Tübingen 1988) in dem Gedicht DankLied, vor die Geist– und Leibliche Geburt (S. 14, 64). Das Lied steht auch in der handschriftlich geführten Gedichte-Sammlung Psalterium Betulianum (PBlO.B.3.3.3, Nr. 43, 81v-83v), gedruckt in Birkens Nachrufschrift auf seine erste, 1670 verstorbene Ehefrau, Sigmunds von Birken Com. Pal. Caes. Todes-Gedanken und Todten-Andenken: vorstellend eine Tägliche Sterb-bereitschaft und Zweyer Christl. Matronen Seelige SterbReise Nürnberg/ zu finden bey Johann Kramern. Gedruckt in Bayreuth/ durch Johann Gebhard. A. C. 1670., S. 25-30, und schließlich in der Nachrufschrift Die Betrübte Pegnesis (wie Anm. 7), S. 54-59.

[13] Zu Bellerophon und Pegasus s. Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter bearbeitet und hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Stuttgart 1964-1975. Bd. 1, Sp. 856-858; Bd. 4, Sp. 582.

[14] Das beginnt früh mit dem Gedicht, mit welchem sich der junge Sigmund Betulius für die Krönung zum Poeta Laureatus durch den Comes Palatinus Martinus Goskius, den Leibarzt Herzog Augusts des Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg, bedankte; s. Prosapia / Biographia (WuK. Bd. 14; wie Anm. 12), Str. 10, S. 35. Das Motiv begegnet in sehr vielen Gedichten Birkens.

[15] Vgl. Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst/ oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy/ mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg/ Verlegt durch Christof Riegel. Gedruckt bey Christof Gerhard. A.C. M DC LXXIX. (Nachdruck Hildesheim / New York 1973), Vorrede, § 24:

Rechtschaffene Poeten/ die sich erinnern/ daß ihre Kunst vom Himmel einfließe/ daß diese Kunst-Ergebenen vor alters für die allein-Weißen gehalten/ und von dem Weltweißen-Vatter Plato Väter und Fürsten der Weißheit/ größer als Menschen und kleiner als Götter/ ja Söhne der Götter und Göttlich genennt worden:

[16] Auch das Gedicht „Es dichten ja zugleich/ der Mahler und Poet“ am Ende (S. 78) des 9. Kapitels im 3. Buch des 1. Teils im 1. Hauptteil (1675) der Academie, das mit der Überschrift Der Redner, Poet und Mahler auch in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder enthalten ist (Nr. 377, S. 438, 1130f.), stellt diese Programmatik vor. Vgl. Vorrede und DerMahlkunstBeschlußGesang in Georg Philipp Harsdörffers Singspiel SEELEWJG im 4. Teil (1644) der Gesprächspiele (Nachdruck, hrsg. von Irmgard Böttcher. Tübingen 1968, S. 492f. [536f.], 620-622 [664-666]).

[17] In den Gedichten „Hier, Iugend, geh zur Schule“ am Ende des 3. Kapitels im 3. Buch des 1. Teils im 1. Hauptteil (1675) der Academie, S. 65, und „Hieher/ zum besten Tanz! Apollo spielet auf.“ am Ende des vorletzten Kapitels im 3. Teil des 2. Hauptteils (1679) der Academie, S. 86. Das erste Gedicht steht mit der Überschrift Auf einen antiken Leuchter., das zweite mit der Überschrift Danzbelustigung der Virtuosen Jugend. auch in der Sammlung S. v. B. Birken-Wälder (WuK. Bd. 2, Nr. 417, S. 479f., 1200f.). Diese Sammlung enthält eine ganze Anzahl von Gedichten, in welchen das Motiv eine Rolle spielt.

[18] Plutarch: Praecepta gerendae reipublicae 12.806e/f; s. Plutarch. Moralia. Vol. X. With an english translation by Harold North Fowler. Cambridge, Mass. / London 2002 (zuerst 1936), S. 200f.: „τούτων οὖ ἔχεσθαι δεῖ τῶν ἀνδρῶν καὶ τούτοις ἐμφύεσθαι, μή, καθάπερ ὁ Αἰσώπου βασιλίσκος ἐπὶ τῶν ὤμων τοῦ ἀετοῦ κομισθεὶς αἰφνίδιον ἐξέπτη καὶ προέφθασεν“.

[19] Aristoteles: Historia animalium 9.c.11; s. Aristotle. History of animals. Books VII-X. edited and translated by D. M. Bulme. Prepared for publication by Allan Gotthelf. Cambridge, Mass. / London 1991, S. 270: „ὀ δὲ τροχίλος λόχμας καὶ τρώγλας οἰκεῖ· δυσάλωτος δὲ καὶ δραπέτης καὶ τὸ ἦθος ἀσθενής, εὐβίοτος δὲ καὶ τεχνικός. καλεῖται δὲ πρέσβυς καὶ βασιλεύς· διὸ καὶ τὸν ἀετὸν αὐτῷ φασὶ πολεμεῖν. [Der Zaunkönig bewohnt Dickicht und Höhlen; er ist schwer zu fangen und schwach von Natur, aber behaglich lebend und kunstfertig. Er wird ‚Alter‘ und ‚König‘ genannt, weshalb ihm auch, wie man erzählt, der Adler feind wurde.]

[20] C. Plini Secvndi Natvralis Historia Libri XXXVII. Post Lvdovici Iani obitvm itervm edidit Carolvs Mayhoff. Vol. II. Libri VII-XV. Editio Stereotypica Editionis Prioris (MCMIX). Stuttgart 1967. Buch X.74, 203f. Die Übersetzung:

Es gibt nämlich zwischen ihnen Kriege und Freundschaften und entsprechende Leidenschaften außer denen, über die wir an bestimmten Stellen schon gehandelt haben. Es vertragen sich nicht Schwäne und Adler sowie Rabe und Grünspecht, die bei Nacht gegenseitig auf ihre Eier aus sind. Ähnlich ist es mit dem Raben und dem Falken, von denen der eine dem anderen die Nahrung raubt, mit den Krähen und der Eule, den Adlern und dem Zaunkönig, wenn wir’s glauben, weil er König der Vögel genannt wird.

[21] Alexander Neckam: De naturis rerum 1.78; zitiert nach: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Neu bearbeitet von Johannes Bolte und Georg Polívka. Bd. 3 (Nr. 121-225). 3. Nachdruckauflage. Hildesheim / New York 1982, S. 280. Die Übersetzung:

Die Vögel verabredeten miteinander, der solle den Ruhm königlicher Hoheit erlangen, der durch seine Flughöhe alle anderen besiegen werde. Die Parra hat daher, unter der Achsel des Adlers versteckt, überraschend ihre Chance genutzt. Denn als der Adler, schon nahe dem Heiligtum Jupiters, die Herrschaft für sich beanspruchte, wagte es die Parra, sich auf den Kopf des Adlers zu setzen und zu behaupten, sie sei die Siegerin.

[22] Das sind die geläufigen Übersetzungen des Namens „parra“; s. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet von Karl Ernst Georges. Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage von Heinrich Georges. Hannover 1959. Bd. 2, Sp. 1483.

[23] S. Bolte / Polívka (wie Anm. 21), S. 280. Das Gedicht ist vollständig mitgeteilt von Franz Pfeiffer in: Germania. Vierteljahrschrift für deutsche Altertumskunde 6 (1861), S. 80-106.

[24] S. Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart / Weimar 1996, Sp. 779. Der dort gegebene Hinweis auf Horaz, C.II. 20, v.1f., ist irreführend. Zu Bidermann s. Bolte / Polívka (wie Anm. 21), S. 280.

[25]Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 3: Die Räuber. Hrsg. von Herbert Stubenrauch. Weimar 1953, S. 253.

[26] S. Bolte / Polívka (wie Anm. 21), S. 280-283.

[27] Sie war erstmals in der Ausgabe von 1840 enthalten; s. Bolte / Polívka (wie Anm. 21), S. 278. Die Zitate nach: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Nach der großen Ausgabe von 1857, textkritisch revidiert, kommentiert und durch Register erschlossen. Hrsg. von Hans-Jörg Uther. 3 Bde. München 1996. Bd. 3: Märchen 145-200; Kinderlegenden 1-10, Nr. 171, S. 75-78.

[28] Bolte / Polívka (wie Anm. 21), S. 282f.

[29] S. Hartmut Laufhütte: Horaz im Birkenwald.Sigmund von Birken als Übersetzer. In: Literatur – Geschichte – Österreich. Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte. Thematische Festschrift zur Feier des 70. Geburtstags von Herbert Zeman. In Zusammenarbeit mit Wynfried Kriegleder hrsg. von Christoph Fackelmann. Wien / Berlin 2011, S. 490-511.

Ungebetene Gäste

Ungeziefer im Luftkriegsroman

Von Florian Hoppe

Der Mensch lebt mit Tieren, ob er will oder nicht. Noch vor der ersten Domestizierung waren sie sein unerwünschter Begleiter, war er dem heute sogenannten Ungeziefer (nicht nur verschiedensten Insekten, sondern auch Würmern und Schlangen sowie kleineren Säugetieren wie Mäusen und Ratten) doch Gastgeber und Wirt. Er verabscheute sie lange vor allem als Nahrungsdiebe (sämtliche Blutsaugeraktivität sei hier dem Mundraub zugerechnet), bevor er sie als Überträger von Krankheiten (bzw., wie im Fall der Ratte, als deren Wirt) zu fürchten begann. Hinzu kam die ungeliebte Erinnerung an die Endlichkeit des eigenen Lebens, die in einem früheren Beitrag bereits angesprochen wurde: „Letztlich steht das Insekt, die Made, die Fliege, das Gewürm für die Vergänglichkeit schlechthin, sieht doch das irdische Schicksal des Menschen unweigerlich dessen Ende als Fraß der Würmer vor.“ (Thomas Homscheid in diesem Blog)

Der Mensch hat in vergangenen Jahrhunderten umfängliche und vielfach erfolgreiche Anstrengungen unternommen, die Parasiten aus seinem Lebensumfeld zu verbannen. Man kann dies nicht zuletzt zu den zivilisatorischen Erfolgen einer Gesundheitspolitik zählen, die sich von der frühneuzeitlichen Miasmentheorie und vergleichbaren Vorstellungen befreit hatte. Dennoch gibt es gesellschaftliche Extremsituationen, die es unmöglich machen, moderne Hygienestandards aufrechtzuerhalten, und die einen Schritt zurück hinter diese Errungenschaften mit sich bringen, so etwa Naturkatastrophen oder Kriege.

Begegnen entsprechende Schilderungen bei der – auch literarischen – Beschreibung der Zustände an der Front und auf den Schlachtfeldern, so sorgt dies weder für Erstaunen noch für Befremden. Denn am Kriegsschauplatz als quasi außerzivilisatorischem Ort fällt dieser Zivilisationsbruch nicht aus dem Rahmen. Erzählte der klassische Kriegsroman (exemplarisch zwei Stellen aus Gert Ledigs Die Stalinorgel) nicht von Soldaten, die in den Feuerpausen einen aussichtslosen Kampf gegen Läuse und anderes Kleinstgetier führen („Manchmal zogen sie [drei deutsche Soldaten] sich aus, krochen wie nackte Einsiedler in ihrem Loch umher und suchten in ihren Uniformen nach kleinen, speckig glänzenden Tieren“, Ledig 1955, 14), und von Leichen, die Fliegen und anderes Ungeziefer nähren („Zurück blieb ein Toter, über dem die Mücken tanzten, bis man ihn fand“, Ledig 1955, 22), würde ihm ein wichtiges Element fehlen.

Erfolgt der Einbruch des parasitären Lebens aber im Herz der urbanen menschlichen Lebenswelt, wie im Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs geschehen, so ist damit nicht nur eine Krise der Hygiene verbunden, sondern auch eine des modernen Selbstverständnisses – zumal, wenn mit den Deutschen ein Volk betroffen ist, das ein ganz besonderes Programm der Säuberung und Hygiene verfolgte (Sebald 2001, 41). So hat Sebald darauf hingewiesen, dass es angesichts dieser Tatsache kaum verwunderlich ist, dass das „schlagartige Überhandnehmen der an den ungeborgenen Leichen gedeihenden parasitären Kreatur“ (Sebald 2001, 41), das auf die Bombenangriffe folgte, kaum literarischen Widerhall gefunden hat.

Einigermaßen explizit wurde in dieser Hinsicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur Hans Erich Nossack in seinem Bericht vom „Untergang“ Hamburgs im Rahmen der Operation Gomorrha im Sommer 1943:

Ratten und Fliegen beherrschten die Stadt. Frech und fett tummelten sich die Ratten auf den Straßen. Aber noch ekelerregender waren die Fliegen. Große, grünschillernde, wie man sie nie gesehen hatte. Klumpenweise wälzten sie sich auf dem Pflaster, saßen an den Mauerresten sich begattend übereinander und wärmten sich müde und satt an den Splittern der Fensterscheiben [Nossack 1976, 52f.]

Die Frechheit der Ratten ebenso wie die Tatsache, dass man solche Fliegen noch nie gesehen hatte, verdeutlichen hier den Einbruch des Fremdartigen, des ganz konkret Außer-Gewöhnlichen. Auffällig ist aber auch, dass Nossack das eigentlich Unerhörte nicht anspricht: woran sich die Tiere laben, wovon sie satt sind. Andere Beschreibungen der Zustände in Hamburg werden da deutlicher und sprechen von einer „Frau mit dem zerrissenen Leib, auf dessen herausgequollenen Eingeweiden in blauen Trauben die Fliegen saßen“ (zitiert nach Hage 2003, 31).

Wo dieser Aspekt der Trümmerwüsten nach den Bombenangriffen überhaupt zur Sprache kommt – noch dazu meist erst viele Jahre nach dem Krieg –, bleibt die Schilderung meist in Andeutungen stecken, in lediglich kleinen Hinweisen auf das anscheinend Unaussprechliche. So erwähnt Thomas Bernhard in Die Ursache eher beiläufig, die ganze Stadt (Salzburg) sei „voller Ratten“ (Bernhard 2004, 69). Woher diese Explosion des parasitären Lebens kommt, wird nur klar, weil er kurz zuvor anspricht, dass man unter den „wiederaufgebauten Gebäuden der Einfachheit halber die meisten Toten liegen gelassen“ habe (Bernhard 2004, 68). Deshalb habe jahrelang Verwesungsgeruch über der Stadt gehangen; überhaupt ist der Tod im Bombenkrieg für Bernhard vor allem auch eine olfaktorische Erfahrung, wenn er vom „eigentümliche[n] Geruch des totalen Krieges“ (Bernhard 2004, 26) spricht, der neben dem Pulverdampf gerade auch „der Geruch von verbrannten Tier- und Menschenfleisch“ (Bernhard 2004, 29) ist. Bei Nossack, der Ähnliches beschreibt, findet sich auch die Reaktion der Menschen darauf: „In uns erwachte plötzlich eine Gier nach Parfüm“ (Nossack 1976, 53).

Wirklich anschaulich wird das parasitäre Leben auf und in den Opfern der Bomben erst dort, wo die Einbindung konkreter Dokumente einen unverstellten Blick auf die Realitäten erlaubt. So integriert Hubert Fichte in Detlevs Imitationen „Grünspan“ Teile der „Ergebnisse pathologischer-anatomischer Untersuchungen“, die der Pathologe Siegfried Gräff an Opfern der Operation Gomorrha vorgenommen hatte. Die untersuchten Leichen stellen sich dabei als jene „großen Behälter von Wurmbrut“ dar, als die Johann Heinrich Zedler in seinem Universal-Lexicon im 18. Jahrhundert bereits den lebenden menschlichen Körper sah (Zedler 1749, 100):

Die Bauchhöhle lässt sich gut schneiden, unter ihr wimmelt es von Maden. […] Zwischen den Stücken werden wenige kriechende Maden und Kokons gefunden. […] Infolge Hitzezermürbung und sekundärer Fäulnis fehlen Teile insbesondere der Bauchhöhle. Ortsanwesenheit von Ratten läßt an eine Beteiligung der Ratten bei der Zerstörung denken. [Fichte zitiert nach Hage 2003, 151–153; vgl. auch Gräff 1955]

Es scheint, als sei diese unterkühlte, medizinische-nüchterne Sprache der einzige mögliche Weg, sich dem furchtbaren Gegenstand zu nähern, seiner gleichzeitig Herr und gerecht zu werden; ähnlich ist Gerd Ledig in Vergeltung bei seiner Beschreibung der unmittelbaren Auswirkungen der Bomben vorgegangen:

In dieser Stunde wurden noch mehr erschlagen. Ein ungeborenes Kind im Mutterleib von einer Hausmauer. Der französische Kriegsgefangene Jean Pierre von einem Gewehrkolben. Sechs Schüler des Humanistischen Gymnasiums am Flakgeschütz von einem Rohrkrepierer. Ein paar hundert Namenlose auch. Nennenswert war das nicht. In diesen sechzig Minuten wurde zerrissen, zerquetscht, erstickt. Was dann noch übrigblieb, wartete auf morgen [Ledig 1956, 9]

„Die Sprache versagt vor der Größe des Grauens“, schreibt Fichte (zitiert nach Hage 2003, 150) – für eine literarische, poetische Sprache mag dies sicherlich zutreffen; dass eine reduzierte klinische Sprache das Grauen jedoch durchaus wiederzugeben vermag, beweisen Ledig und auch Fichte selbst.

Zwar handelt es sich bei Ratten, Fliegen und anderem Ungeziefer um klassische Vanitas-Symbole, doch spielt die Erinnerung an die Vergänglichkeit allen menschlichen Lebens an den angesprochenen Textpassagen nur eine untergeordnete Rolle. Denn im vielfach als „apokalyptisch“ beschriebenen Umfeld des Bombenkriegs bedarf die Endlichkeit des Lebens keiner Erinnerung: Sie ist omnipräsent und nicht zu übersehen – in abgerissenen Körperteilen sowie in verbrannten, verbrühten, verstümmelten, zerquetschten und zerfetzten Körpern. Jörg Friedrich beschreibt sie in ihrem Grad der Unkenntlichkeit nicht zu Unrecht als nur mehr „Zustände“, die aus den Trümmern geborgen werden (Friedrich 2003, 512) – und nicht zu übersehen (vgl. z.B. Bernhard 2004, 28, und Ledig 1956, 7–9 u.ö.). Vielmehr dokumentiert die Anwesenheit von Ungeziefer, das sich von den Leichen auf und unter den Trümmern nährt (was vorausgesetzt werden kann, auch wenn es nicht explizit angesprochen ist), den Zusammenbruch der Ordnung bzw. die Unmöglichkeit, in der Extremsituation an den üblichen Begräbnis- und Trauerritualen festzuhalten. Viele Leichen konnten nach schweren Luftangriffen nicht sofort geborgen werden, teils fehlte es bereits an der nötigen Infrastruktur und Organisation, um die Toten, die in den Straßen lagen, zu sammeln und zu begraben. Häufig aber reichten auch die Kapazitäten der Friedhöfe schlicht nicht aus, um geregelte Aufbahrungen und Bestattungen zu ermöglichen, ganz davon zu schweigen, dass viele der Toten so entstellt und/oder bereits so verwest waren, dass sie ohnehin nicht mehr identifiziert werden konnten (vgl. Süß 2011, 444–451). Mit diesen Zuständen war Ungezieferbefall verbunden, was wiederum mit massiver Seuchengefahr einherging. Die Folge waren Massenbegräbnisse und vor allem auch Massenverbrennungen – zentral wie auf dem Dresdner Altmarkt (nachdem die Idee von Massengräbern in den städtischen Parks wegen der genannten Seuchengefahr verworfen worden war) oder direkt in den Kellern per Flammenwerfer wie in Pforzheim oder ebenfalls in Dresden (vgl. Süß 2011, 453, und Taylor 2004, 400–402). Auch diese Szenen haben vereinzelt Eingang in die Literatur gefunden, z.B. in Kurt Vonneguts Slaughterhouse-Five:

Daher wurde eine neue Arbeitsmethode eingeführt. Die Leichen wurden nicht mehr heraufgebracht. Sondern sie wurden dort, wo sie waren, von Soldaten mit Flammenwerfern eingeäschert. Die Soldaten standen draußen und warfen einfach das Feuer hinein. [Vonnegut 2005, 207; erwähnt sei hier, dass Vonnegut dies nicht selbst erlebte, auch wenn er als Kriegsgefangener während der Angriffe in Dresden war und an den Leichenbergungen und Massenverbrennungen beteiligt war; vgl. Vonnegut 2007, 18]

Es steht außer Frage, dass es im Rahmen dieser anonymen, quasi technischen Abfertigung der Opfer an Möglichkeiten zu individueller/gesellschaftlicher Trauer mangelte. Ob sich aus dieser fehlenden Möglichkeit zur Abschiednahme und damit verbunden eventuell einer nicht ausreichenden Eingliederung der Toten in das kollektive Gedächtnis auf das vermeintliche Schweigen der deutschen Schriftsteller zum Bombenkrieg schließen lässt, das Sebald festgestellt haben wollte (vgl. Sebald 2003), kann hier nicht diskutiert werden. Vielmehr scheint es, dass die Sprache zwar nicht in Gänze vor diesem Gegenstand kapitulierte, aber doch keine adäquaten ästhetischen Ausdrucksformen dafür fand. Als Beleg hierfür mögen die zitierten Stellen dienen, die sich zur Darstellung der Bombenkriegsfolgen erfolgreich einer unterkühlten Laborsprache oder gar des außerliterarischen Dokuments bedienen.

Als weiteres Argument sei abschließend angeführt, dass es der Literatur – auch relativ unmittelbar nach dem Krieg – doch möglich war, die (Über)Lebenden und die Toten in den Trümmern gewissermaßen zu versöhnen und Ersteren eine Art Abschied zu ermöglichen: Wolfgang Borchert beschreibt in Nachts schlafen die Ratten doch eben jene Situation, in der ein Toter, der unter den Trümmern liegt, nicht bestattet werden kann. Der Junge Jürgen wacht an den Überresten des Hauses, in dem er und sein Bruder lebte, damit keine Ratten zu seinem Bruder gelangen, der tot unter den Trümmern liegt.

Es ist kein Zufall, dass Borchert Ratten wählt, ist die Ratte doch ein „anthropologisches Tier, ein Tier, das in besonderer Weise in seiner metaphysischen Funktion Aufschluss über menschliche Ängste gibt“ (Bodenburg 2012, 161). Die Ratte ist Hinweis auf die fortgesetzte Unerreichbarkeit der Leiche ebenso wie auf ihren zu vermutenden Zustand. So kommt hier die Angst vor dem angesprochenen Zivilisationsbruch ebenso zum Ausdruck wie jene vor einem unter Umständen nicht möglichen Abschied mit den gewohnten gesellschaftlichen Ritualen. Zwar kann man in Jürgens Ausharren an der Ruine und seiner Sorge um den Bruder eine Art Trauerarbeit sehen; diese nimmt aber in ihrer Fruchtlosigkeit paradoxe Züge an. Das eigentliche Loslassen und die langsame Abschiednahme ermöglicht erst ein älterer Mann, der Jürgen davon überzeugt, dass er seine Wache abends guten Gewissens beenden könne, da die Ratten nachts doch schliefen. Indem das parasitäre, außerzivilisatorische Element zivilisiert wird, indem Jürgen quasi eine nächtliche Arbeitspause des Ungeziefers suggeriert wird, erhält er die Möglichkeit, den Ort des Schreckens zu verlassen – besänftigt, dass sowohl er als auch sein Bruder zumindest zeitweise ruhen können.

Literatur

Primärtexte

Bernhard, Thomas: Die Ursache. Eine Andeutung. Salzburg 2004.

Borchert, Wolfgang: Nachts schlafen die Ratten doch. In: ders.: Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Reinbek bei Hamburg 1949, 216–219.

Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm. Hg. v. Volker Hage. Frankfurt a.M. 2003.

Ledig, Gert: Die Stalinorgel. Hamburg 1955.

Ledig, Gert: Vergeltung. Roman. Frankfurt a.M. 1956.

Nossack, Hans Erich: Der Untergang. Frankfurt a.M. 1976.

Vonnegut, Kurt: Schlachthof 5. Frankfurt a.M. 2005.

Sekundärliteratur

Art. Wurmtheorie. In: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, hrsg. von Johann Heinrich Zedler, Bd. 60, Leipzig 1749, 100–167.

Bodenburg, Julia: Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000. Freiburg 2012.

Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. Frankfurt a.M./Zürich/Wien 2003.

Gräff, Siegfried: Tod im Luftangriff. Ergebnisse pathologisch-anatomischer Untersuchungen anläßlich der Angriffe auf Hamburg in den Jahren 1943–45. 2., erw. Ausgabe. Hamburg 1955.

Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2003.

Süß, Dietmar: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England. München 2011.

Taylor, Frederick: Dresden. Tuesday 13 February 1945. London 2004.

Vonnegut, Kurt: A Man without a Country. New York 2007.

Mörikes Familientiere

von Reiner Wild

Tiere haben Eduard Mörike zeit seines Lebens begleitet. „Ich halte mir einen Staaren“, schreibt er im November 1831 – er war seit dem Sommer Pfarrverweser in Eltingen – an Friedrich Theodor Vischer (HKA 11, 231);[1] am Ende des Jahres berichtet er seiner Braut Luise Rau, dass er nun auch einen „artigen Spitzhund“, ein „gescheidtes, wachsames lebhaftes Geschöpf“, beherberge (HKA 11, 235). Er heißt Joli; der Name geht wohl auf Französisch jolie (‚hübsch‘, ‚artig‘, ‚nett‘) zurück, lässt aber auch den im Schwäbischen und darüber hinaus verbreiteten Ausruf des Erstaunens „mein lieber Scholli“ anklingen (der seinerseits auf jolie zurückgehen mag). Gelegentlich wird Joli auch David genannt, mitunter gar Nikodemus. Er begleitete Mörike mehr als zehn Jahre; im Pfarrhaus von Cleversulzbach war er Teil der „HausGenossenschaft“ (HKA 13, 216), zu der neben dem pfarrherrlichen Junggesellen, dessen Mutter und der Schwester Klara auch „der Staar, der Distelfink, der Igel, Hund und Katze“ gehörten (HKA 13, 132). Zeitweise war diese „Menagerie“ (ebd.) noch durch eine „kleine Schildkröte“ erweitert, die Theobald Kerner, der Sohn von Justinus Kerner, aus Italien mitgebracht hatte (HKA 14, 119). Auch zur späteren Familie Mörikes mit der Ehefrau Margarethe, wiederum der Schwester Klara und den beiden Töchtern Franziska und Marie gehörten Tiere – ein Hund, ein Kanarienvogel und eine weiße Katze: „die Kleine [Mörikes jüngere Tochter Marie] strickt ganz still bei meiner Lampe, die weiße Katze auf dem Schoos, kein Laut im Zimmer als das Schnurren dieses Thiers und der Gang der Wanduhr“ (HKA 18, 113). Diese Katze, korrekter: dieser Kater hieß Weißling; sein zweiter und immerhin geheimnisvoller Name  – „The naming of cats is a difficult matter“, wie seit T. S. Eliots Gedicht bekannt ist – war „Waihugebei“ (HKA 18, 232).

Den Tieren gilt viel Aufmerksamkeit; immer wieder berichtet Mörike in seinen Briefen von ihnen. Vor allem der Familie Hartlaub wird regelmäßig und ausführlich von den Tieren erzählt. Abwesende Familienangehörige werden selbstverständlich über die Tiere und ihr Befinden auf dem Laufenden gehalten; so erfährt Klara Mörike nach einem Umzug, den auch Weißling mitmachte: „Die weiße Katze war anfangs ganz unglücklich über unsern Quartierwechsel, lief wie Quecksilber u. mit Geschrei von einer Thür zur Andern; jezt schläft sie wieder in der gewohnten Schneckenform“ (HKA 18, 240). Weißling durfte auch in der Eisenbahn mitfahren, in einem Henkelkorb mit Deckel. Mörike hat es gezeichnet. Auf einer Seite seines ‚Lorcher Hausbuchs‘ ist ein kleines Blatt mit einem Weidenkorb so angeklebt, dass es aufgeklappt werden kann; darunter ist Weißling zu sehen (vgl. HKA 18, 727 f.).[2]

Mörike_01

Aus einem zugehörigen Gedicht, das Mörike an die Familie Hartlaub schickt (und das bisher in keine der Gedichtausgaben Mörikes aufgenommen wurde), ist zudem zu erfahren, dass Weißling noch einen dritten Namen hatte, womit immerhin T. S. Eliots Aussage „a cat must have three different names“ bestätigt wird; bemerkenswert ist jedoch, dass die Familie Mörike, entgegen der Behauptung von T. S. Eliot „And that is the name that you never will guess; / The name that no human research can discover“, diesen dritten Namen kennt:

O Rockebuß, jetzt mußt du dran!
Du fährst mit Sturmeseilen
Im Gretten[3] auf der Eisenbahn
Vier lange, bange Meilen.
Du hörest nicht und siehest nicht,
Und öffnest du dein Augenlicht
So steigst du aus – in Stuegert! [HKA 18, 243]

Mörikes Briefe enthalten eine Fülle von Anekdoten und Berichten über Begebenheiten mit den Tieren. Zu den bekannteren gehört, wie Weißling mit Moriz von Schwind, der Mörike Ende 1868 besuchte, umgesprungen ist. Schwind habe sich, erzählt Mörike seinem Freund Wilhelm Hartlaub, mit einem Buch „zu einem Mittagschlaf auf unserm Sopha“ zurückgezogen, „wir [das Ehepaar Mörike] setzten uns derweil in die untere Stube zu den Hausleuten, hörten ihn aber bald wieder oben herumsteigen: Der Weißling hatte ihn geweckt, indem er ihn, mit einem Sprung auf seinen Bauch, besuchte“. Mit leichtem Spott fügt Mörike hinzu, Schwind sei „seit einem Jahr noch um 3 Finger breit dicker geworden“, weshalb ihm bereits zu einer Diätkur geraten worden sei (HKA 19.1, 80). Weißlings Sprung auf den Bauch des Besuchers hat Mörike, wiederum im ‚Lorcher Hausbuch‘, in einer Zeichnung festgehalten:

Mörike_02

Mörikes Berichte und Anekdoten zeigen ein achtsames und liebevolles, dabei auch spielerisches Verhältnis zu den Tieren, in dem empfindsame Empathie mit dem Tier und bürgerliche Häuslichkeit des 19. Jahrhunderts verbunden sind, was insgesamt durchaus ‚biedermeierlich‘ genannt werden mag. Einige der Tiere, voran der geliebte Joli und in späteren Jahren der Kater Weißling, erhalten indes einen besonderen Status in Mörikes „HausGenossenschaft“. Sie werden zu Familienangehörigen und bekommen dabei menschliche Züge; ihnen werden – in durchaus ironischer Brechung – menschliches Verhalten und menschliches Empfinden zugeschrieben. „Auch einen herzlichen Gruß von mir, David und Fulvien“, schreibt Mörike 1832 in einem Brief an Klara Mörike und stellt damit David alias Joli und seine damalige Katze Fulvia mit ihren Namen in eine Reihe mit sich selbst. Weiter heißt es:

Die leztere ist in kurzer Zeit durch übermäßigen Fraß so stark und groß ‚wie ein Lamm‘ geworden (um mich des Ausdrucks meines Nachbars zu bedienen). Sie verwildert ganz durch ihr Vagiren, und wird, ihrer bäurischen Sitten wegen, von David tief verachtet, der freilich noch immer der noble Junker bleibt, wie Du ihn kennen lerntest. Er hat seit einiger Zeit das Französische angefangen und spricht es bereits abwechselnd mit dem Hündischen. Er wollte neulich der Schwester etwas von seiner Bildung beibringen, aber sie lohnte ihm mit boshaftem Spotte und schielte dabei immer nach dem Vogelkäfigt. [HKA 11, 337]

Auf einer Zeichnung, die dem Bericht folgt, hat Mörike die Lehrstunde zwischen Schwester Katze und Bruder Hund festgehalten, in der sich Fulvia immerhin noch auf Distanz hält, wenn sie für die Bildungsbeflissenheit Jolis nur Spott übrig hat, und sie auch ‚tierischer‘ bleibt, wenn sie statt der Belehrung zu folgen auf ein mögliches Jagdobjekt schielt!

Mörike_03

Als Familienangehörige werden die Tiere auch zu Adressaten der Lyrik Mörikes, wiederum ironisch gebrochen und gelegentlich mit parodistischem Einschlag – so etwa in den beiden an Joli gerichteten Strophen, die Mörike seinem Bruder Karl mitteilt:

2 Verse die Großhund (aber in seinem Dialekt) oft hören muß während er auf meinem Schooß ruht und ich ihm [sic!] liebkose.

Dieses mußt Du warlich spüren
Daß es lauter Liebe ist
Was mein Inneres thut regieren
Weil Du so gehorsam bist,
Dieses labt Dein treues Herz
So in Freude wie in Schmerz.

Deine Seele ist voll Kummer
Weil Du nichts zu fressen hast
Du ergibst Dich nun dem Schlummer
Dieser ist Dein bester Gast.
Diesen ruft Dein treues Herz
So in Freude wie in Schmerz. [HKA 12, 58]

Mörike verwendet eine im 17. und noch im 18. Jahrhundert im Kirchenlied und auch in der Liebeslyrik geläufige Strophenform; er spielt mit Versatzstücken und Vokabular beider Traditionen, vornehmlich der geistlichen, die freilich mit der ‚Tierheit‘ des Angesprochenen konfrontiert werden: „Deine Seele ist voll Kummer / Weil Du nichts zu fressen hast.“

Eine besondere Form der Mitteilung in Mörikes Briefen sind die ‚Musterkärtchen‘, „kleine, selbsterlebte Anekdoten, hauptsächl. charakteristische Züge aus unserer nächsten Umgebung, ohne viel Witz, wenn sie nur lustig oder bezeichnend sind“, wie Mörike selbst das von ihm kreierte Genre bestimmt (HKA 12, 147). Die Bandbreite des Dargestellten in solchen Musterkärtchen reicht von der bloßen Familienanekdote (mit oftmals scherzhaftem oder komischem Inhalt) bis zu Prosa-Miniaturen, in denen der flüchtige Augenblick einer Erfahrung oder einer Begebenheit festgehalten ist. Auch in den Musterkärtchen wird immer wieder von den Tieren berichtet, so in dem am 25. Februar 1842 an Hartlaub geschickten, in dem Mörike die Inszenierung einer Zeremonie erzählt, mit der er Joli (der ihm offenbar den nötigen Gehorsam verweigert hatte) in einer Art von förmlichen Schenkung aus seiner Obhut entlässt und der Herrschaft seiner Schwester Klara übergibt.[4] Die Musterkärtchen, die mitunter auch ein Gedicht enthalten, weisen auf die von Mörike vor allem in seinen späteren Lebensjahren ausgebildete Alltagslyrik voraus. Mörike begleitet Begebenheiten des privaten, familiären Alltags, wobei die engeren Freunde einbezogen sind, mit scheinbar beiläufigen Gedichten. Anders als in der überkommenen Gelegenheitslyrik, bei der besondere Anlässe wie etwa Geburtstage durch ein Gedicht aus dem Alltag heraus gehoben werden, wird mit diesen Gedichten eine eher alltägliche, nicht notwendigerweise bereits aus sich selbst besondere oder bedeutsame Begebenheit markiert. Mit der Begleitung durch das Gedicht wird die alltägliche Begebenheit zur Inszenierung; der flüchtige Moment wird im Ablauf der Zeit festgehalten und zugleich im Gedicht poetisch ‚aufgehoben‘ und auf Dauer gestellt.[5] Diese Poetisierung des Alltags ist Reaktion auf Modernisierungserfahrungen, Antwort vor allem auf Beschleunigungsprozesse, denen die Erfahrung erfüllter Zeit im Bereich des Privaten poetisch entgegengesetzt wird; sie ist ästhetischer Gegenentwurf zu den Entfremdungserfahrungen der Moderne.

In die Poetisierung des Alltags sind die Tiere einbezogen. In ironischer Brechung, mitunter auch mit skurrilem oder kauzigem Einschlag werden sie in die Inszenierung aufgenommen und avancieren damit zu Mitspielern im inszenierten Alltag. So können die Tiere, voran Joli, dem ja bereits das Gedicht Dieses mußt Du warlich spüren gegolten hat, zu Adressaten von Gedichten werden wie beispielsweise in Impromptu an Joli, dem Vierzeiler von 1837, in dem zudem in der Kombination von Erzählung und Gedicht die Nähe von Musterkärtchen und Mörikes Alltagslyrik deutlich sichtbar ist.

Impromptu an Joli
als er, nach einer Edeltat der Bescheidenheit, von mir, von Clärchen
u. Mutter wechselweise auf den Arm genommen und, bis zu seinem
Überdruß, geliebkost wurde

Die ganz Welt ist in dich verliebt
Und läßt dir keine Ruh,
Und wenn‘s im Himmel Hundle gibt
So sind sie grad wie du! [SW 2, 435]

Als Mitspieler können die Tiere zudem zu Sprechern von Gedichten werden. So gratulieren 1866 Weißling und Sauberschwarz, eine weitere, damals zum Haushalt gehörende Katze, Mörikes Schwester Klara zu ihrem Geburtstag mit einem Gedicht. Es beginnt durchaus ‚kätzisch‘:

Heut in der Frühe weckten
Wir zweie uns und leckten
Die Pelze um und um:
Mit schönen Reverenzen
Dich freundlich zu umschwänzen;
Das ganze Haus weiß ja warum.

Es folgen Danksagungen an Klara Mörike; dabei werden beide Tiere zunehmend ‚menschlicher‘, sie und die Angesprochene rücken einander immer näher:

Du halfest uns vom Tode
Zu einem sichern Brode,
Du gabst uns Dach und Fach.
Wieviel hast du berichtigt,
Wie treulich stets beschwichtigt
Der strengen Hausfrau Weh und Ach!

Du lehrtest selbst die Jugend
Die erste Christentugend,
Daß man ein Tierlein pflegt,
Und wie man – o du Gute! –
Es beinah ohne Rute
Möglichst zur Reinlichkeit bewegt.

Was uns an Lieblichkeiten
Der Schöpfer lieh bescheiden,
Wer würdigt es wie du?
Wer fühlt sich so gemütlich,
Gedankenvoll und friedlich
Hinein in unsere Seelenruh?

In der Schlussstrophe schließlich werden die Glückwünsche dargebracht; Gratulanten und Geburtstagskind sind miteinander vereint:

Jetzt wünschen wir dir eben
Gesundheit langes Leben,
Ein Stübchen obendrein;
Da wollen wir zu dreien
Uns sanfter Tage freuen,
Da wird es wie im Himmel sein. [SW 2, 485 f.]

Bei der Überreichung eines Geburtstagsgeschenks an Mörikes Frau Margarethe 1868 sind gar die Tiere der Familie zusammen mit Tieren der Nachbarschaft zum Chor vereint. Eine „Deputation von lebenden Vierfüßern: unsere weiße Katze [Weißling], der schwarzhaarige Haushund [der damalige Hund Mörikes namens Duxer], die graue Katze vom Haus mit zwei ganz blonden Jungen in ihrem Korb, endlich das bekannte braune Hündlein unseres Nachbars, des Apothekers“ – so im erläuternden Bericht, der wie beim Impromptu an Joli beigegeben ist – spricht ein Gedicht, das so beginnt:

Verehrteste! Du wirst verzeihn,
Wenn sich mit andern Gratulanten,
Die sich des schönen Festes freun,
Zuteuerst auch die Abgesandten
Der fast verächtlich so genannten
Tierwelt um dich zusammenfanden. [SW 2, 494]

Damit nicht genug! Die Atmosphäre im Hause Mörike ist so sehr literarisch durchtränkt und poetisch angeregt, dass jedenfalls der geliebte Joli selbst zum Dichter wird. Zu Mörikes Geburtstag 1841 gibt es ein Gedicht, das von Joli unterzeichnet ist:[6]

Meinem Herrn
zum 8ten
September

Ich mach nicht viele Worte,
Bring Dir auch keine Torte,
Noch sonst ein kostbar Ding;
Hier sind geröste Mandel,
Das ist der ganze Handel,
Und war der Kosten sehr gering.
…………………………….Dein
……………………………………..treuster Joli.

Allerdings bleibt die Verfasserschaft hier trotz der Unterzeichnung durch Joli noch unsicher. Auf der Handschrift ist „von Clärchen“ vermerkt, was auf Klara Mörike als Autorin schließen lässt (wofür auch der Hinweis auf die geringen Kosten des Geschenks sprechen mag); dass Mörike für sich selbst sich ein Geburtstagscarmen schrieb, ist wenig wahrscheinlich, wenngleich auch nicht gänzlich auszuschließen. Deutlich gesicherter ist hingegen die Autorschaft im dem bereits im Jahr zuvor zum Geburtstag der Schwester Klara geschriebenen Gedicht; Aussage und Sprache lassen kaum Zweifel am hündischen Urheber zu:

Joli gratuliert
zum 10. Dez. 1840

Soll ich lang nach Wünschen suchen?
Kurz und gut sei meine Wahl:
„Alle Jahre solch ein Kuchen,
Und zwar wohl noch sechzigmal!
Nämlich mit gesundem Leibe;
Daß kein Elsaß und kein Krauß
Dir das mindste mehr verschreibe,
Denn mit diesen ist es aus.“
Dies ist mein carmen; spar dein Lob,
Mache nicht, daß ich erröte!
Ik bin dwar ein Ilodop,
Aber ik bin kein Oëte. [SW 2, 481]

Joli beherrscht das Metier. Er weiß zu reimen und das Metrum einzuhalten, ihm ist vertraut, dass zum Geburtstagsgedicht gute Wünsche, nicht zuletzt für die Gesundheit, gehören, er kennt den Bescheidenheitstopos, der den Dichter ziert („spar dein Lob, / Mache nicht, dass ich erröte“). Dass er die Namen der Hausärzte der Familie, Elsässer und Krauß, kennt, versteht sich von selbst; allerdings verballhornt er, wohl um des Metrums willen, den einen Namen. Joli ist gebildet, ein poeta doctus; er weiß, dass solch ein Gedicht auch, antikem Wortgebrauch folgend, „carmen“ genannt werden kann. So ist sein Selbstbewusstsein, das ihn mit dem Bescheidenheitstopos spielen lässt, zweifellos berechtigt. Am Schluss, als er von sich selber spricht und sich als Philosoph, nicht als Poet zu erkennen gibt, fällt er – so scheint es – dann doch ins Hündische zurück; er hat Probleme mit der Aussprache menschlicher Laute. Jolis philosophische Richtung lässt das Gedicht kaum erkennen; immerhin plädiert er für Wohlergehen und einen gesunden Körper; die Vermutung liegt nahe, dass er sich, seiner Spezies gemäß, den Kynikern angeschlossen hat. Mit der Selbstbeschreibung als Philosoph setzt sich Joli freilich auch deutlich ab von seinem Herrn, der wahrlich mehr ein Poet als ein Philosoph war. Und nützt er nicht zugleich die Gelegenheit des Geburtstagsgedichts zu einer Persiflage auf die Alltagslyrik seines Herrn und Meisters? Wie auch immer, er erweist sich jedenfalls als durchaus ebenbürtiges Mitglied der mörikeschen „HausGenossenschaft“.


[1] Mörikes Werke und Briefe werden nach der historisch-kritischen Gesamtausgabe unter der Sigle HKA + Band- und Seitenzahl zitiert. In der HKA ist von den beiden geplanten Gedichtbänden bisher lediglich Bd. 1.1: Gedichte. Ausgabe von 1867 (2003) erschienen; die weiteren Gedichte Mörikes werden unter der Sigle SW 2 + Seitenzahl nach der Ausgabe Sämtliche Werke in zwei Bänden zitiert. Zu Mörikes Tieren vgl. die schöne, allerdings nicht ganz fehlerfreie Zusammenstellung Neef: Impromptu an Joli.

[2] Vgl. zu dieser und zur folgenden Abbildung Mörike: Eine phantastische Sudelei, S. 109 u. 110.

[3] „Gretten“: schwäbisch für Weidenkorb.

[4] Vgl. den Kommentar von Albrecht Bergold zu diesem Musterkärtchen auf der Homepage der Mörike-Gesellschaft, http://www.moerike-gesellschaft.de/musterkaertchen_2013.pdf, aufgerufen im März 2013.

[5] Auf den Zusammenhang dieser Alltagslyrik Mörikes mit der bürgerlichen Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts hat nachdrücklich und überzeugend Wolfgang Braungart aufmerksam gemacht; vgl. z. B. Braungart: Joli gratuliert, S. 226: „Diese Gedichte sind ästhetisch-soziale Handlungen“.

[6] Mörike schickte das Gedicht am 8. September 1841 als Briefbeilage an Hartlaub, vgl. HKA 13, 553; es wurde bisher in keine der Gedichtausgaben Mörikes aufgenommen; der Text folgt hier der Handschrift in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart LBS Cod. hist Q 327,7,77.

..

Literaturverzeichnis

Braungart, Wolfgang: Joli gratuliert. Eduard Mörike und sein Hund. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Huber u. Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 221–232.

Mörike, Eduard: Eine phantastische Sudelei. Ausgewählte Zeichungen. Hg. von Alexander Reck. Stuttgart 2004.

Mörike, Eduard: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach den Originaldrucken zu Lebzeiten Mörikes und nach den Handschriften. Textredaktion: Jost Perfahl. München 1968–1970. Bd. 2. 3. Auflage. Mit Anmerkungen von Helmut Koopmann. Düsseldorf/Zürich 1996. [SW 2]

Mörike, Eduard: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg und in Zusammenarbeit mit dem Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. hg. von Hubert Arbogast, Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer u. Bernhard Zeller. Stuttgart 1967 ff. [HKA]

Neef, Marliese Eva: Impromptu an Joli (und anderes Getier, größeres und kleineres). Privatdruck. Bingen-Bingerbrück [1998].

Die mit den Tieren reden

Anmerkungen zur Tierkommunikation im Internet

Von Wolfgang Settekorn

1. Sprechende Tiere, Sprechen zu Tieren, Kommunikation mit Tieren

Die Nachricht, dass es in dem Fest-Blog für Hans-Peter Ecker um „Tiere aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“ gehen soll, ließ mich als Sprach- und Kommunikationswissenschaftler an Formen der Kommunikation mit Tieren denken: zuerst an sprechende Tiere, wie Odins Raben Hugin und Nunin, an die Schlange im Paradies (1. Mose 3,1-6) oder an Bileams Esel (4. Mose 22, 28-30); aus neuerer Zeit dann an „Der sprechende Hund“ bei Loriot. Da die genannten Beispiele jedoch einen nur verschwindend geringen Teil jener sprechenden Tiere bieten, wie sie Loetscher (1992), Huth (2006) und Dichtl (2008) ausführlich behandeln, schien dieser Weg etwas ausgetreten.

Dann wies das Giotto-Bild mit der Vogelpredigt des Heiligen Franz von Assisi auf der Umschlagseite der von Hans-Peter Ecker 1999 herausgegebenen Legendensammlung auf einen anderen Aspekt hin, geht es hier doch um menschliche Rede zu Tieren und damit um eine ganz spezifische Konzeption des Verhältnisses von Mensch und Tier, die christliche Nächstenliebe auf die Natur und ihre Wesen bezieht und sie in ein tätiges Mitgefühl einschließt.

Schließlich bin ich auf den noch recht neuen Bereich der „Tierkommunikation“ gestoßen und dabei nochmals auf Franz von Assisi, weil er dort oft als historisches Vorbild genannt wird. Die vorwiegend weiblichen Betreiber der „Tierkommunikation“ bringen in ihrer Selbstdarstellung, ihrem Selbstverständnis und ihrer Praxis die beiden Phänomene der sprechenden Tiere und des Sprechens mit Tieren zu einem eigenen Ansatz zusammen und verbinden ihn mit dem Anspruch einer neuen kulturellen Dimension im Verhältnis von Mensch und Tier. Diese Art der Mensch-Tier-Kommunikation, die in den USA Ende des 20 Jahrhunderts entwickelt, dann in Europa übernommen und verbreitet wurde, steht im Zentrum dieses Beitrags.

2. Tierkommunikation im Internet

Das Suchwort „Tierkommunikation“ lieferte bei google.de im Juni 2013 in 0,21 Sekunden 456.000 Treffer. Auch wenn bei weitem nicht alle einschlägig sind und die Zahl der Wiederholungen recht groß ist, „Tierkommunikation“ findet im Internet viel Beachtung. Dass zudem viele Treffer Anzeigen sind, zeigt auch ein reges wirtschaftliches Interesse an ihr.

2.1 Was ist Tierkommunikation?

Tierkommunikation gilt nach dem Bekunden ihrer Betreiber als eine Form, in der Tiere aller Art mit Menschen kommunizieren; sie verspricht Lösungen von Problemen im Umgang von Mensch und Tier. Die Tierkommunikatorin Anna Katinka Witte gibt auf ihrer Website (http://www.animalwhisperer.de/tierkommunikation.html) eine kurze und bündige Auskunft:

Tierkommunikation heißt: Mit Tieren sprechen. Ich gehe also in ein intensives Gespräch mit Ihrem Tier, bei dem es sich zu seiner Lebenssituation und allem, was ihm sonst wichtig ist, mitteilen kann. Desweiteren ist es mir als Medium natürlich möglich, dem Tier Ihre Fragen zu stellen. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Bereitschaft Ihres Tieres dazu!

Etwas ausführlicher sieht Barbara Franke (http://www.tierkommunikation.eu/was-ist-tierkommunikation.html) „Tierkommunikation“ im breiteren Rahmen telepathischer Kommunikation:

Bei der Tierkommunikation handelt es sich um eine telepatische [sic] Kommunikation mit Tieren, die schon bei Naturvölkern als eine Möglichkeit angesehen wurde täglich mit allem Lebendigen zu kommunizieren.Nicht nur die Schamanen und die Weisen der Naturvölker benutzen die Telepathie[,] um sich mit der Natur und allem Leben zu verbinden, sondern auch ganze Volksstämme wie die Aborigines benutzen die Telepathie zur Verständigung untereinander, sogar über große Distanzen.Jedem gesprochenen Wort geht ein Gedanke, ein Bild oder ein Gefühl voran.Dies auf telepatische [sic] Weise zu vermitteln ist eine allen Geschöpfen angeborene Fähigkeit, die vor allem viele unserer Kinder noch beherrschen, die ihnen aber im Laufe ihrer Entwicklung durch das gesprochene Wort ersetzt wird und damit verkümmert.Durch die Erziehung in unserer hochtechnisierten Welt geriet diese Gabe immer mehr in Vergessenheit. Jedoch können wir dieses Wissen durch bestimmte Übungen wieder in unser Bewusstsein rufen.

Als Kernpunkte telepathischer Tierkommunikation gelten demzufolge:

Angeborenheit der tiertelepathischen Kompetenz;

● deren Verbreitung und Einsatz bei Naturvölkern;

● deren Verlust oder Vergessen durch (modernen und westlichen?) Prozess von Enkulturation und Zivilisation;

Möglichkeit zur (Wiederer-) Weckung dieser Fähigkeiten;

animalischer Universalismus (die Kompetenz zur Tierkommunikation für alle Lebewesen).

Diese Kernpunkte finden sich so oder ähnlich auf den meisten der Tierkommunikation gewidmeten Websites wieder.

2.2 Abundanz und Schweigen im Netz: Fehlende Einträge bei Wikipedia

So zahlreich die Hinweise zur Tierkommunikation auch ausfallen, so bedeckt hält sich Wikipedia. „Animal Communication “ ist für die englische Version „any transfer of information on the part of one or more animals that has an effect on the current or future behaviour of another animal” (en.wikipedia.org/wiki/Animal_communication). Sie ist damit Teil der Zoosemiotik, die ausdrücklich von den „anthroposemiotics” (als „the study of human communication”) abgesetzt wird. Von der bei der „Tierkommunikation” betriebenen Kommunikation zwischen Mensch und Tier findet man hier nichts.

Der abundanten Internetaktivität von Betreibern der Tierkommunikation steht das Schweigen der größten Online-Enzyklopädie entgegen. Dies könnte auf einen Clash in der Netzkultur hinweisen, bei dem eine sich als „seriös“ verstehende Einrichtung dieser Form der Kommunikation die Anerkennung verweigert. Umso verständlicher ist es dann, dass die Neuen und Alternativen in ihren Medien- und Internetauftritten um öffentliche Aufmerksamkeit und um Anerkennung buhlen. Hinweise zu eigenen öffentlichen Medienauftritten und zu medialer Berichterstattung in Presse und Fernsehen (oft mit entsprechenden bei YouTube einsehbaren Videos über sie) sind deshalb auf den Websites von Tierkommunikatoren fester legitimatorischer Bestandteil, – ganz abgesehen von zahlreichen eigenen Vorträgen und Beiträgen bei YouTube.

2.3 Eine erste offizielle Tierkommunikatorin in Deutschland: Gudrun Weerasinghe

Ein Beispiel liefert hier Gudrun Weerasinghe, die als Tierkommunikatorin mit einem eigenen Beitrag in der deutschsprachigen Version von Wikipedia vertreten ist (http://de.wikipedia.org/wiki/Gudrun_Weerasinghe). Über ihren Eintrag führt bei Wikipedia zumindest ein indirekter Weg zur Tierkommunikation.

Gudrun Weerasinghe (* 20. Februar 1954 in Essen; † 7. Dezember 2010 ebenda) war eine deutsche Tierkommunikatorin, Autorin und seit 1985 freischaffende bildende Künstlerin, die sowohl durch Fernsehauftritte und Presseartikel, [sic] als auch durch Kunstausstellungen im In- und Ausland bekannt wurde.

Dieser Einstieg nennt mit dem Hinweis auf ihre Tätigkeit als Tierkommunikatorin, Autorin und bildende Künstlerin drei biographisch relevante Tätigkeitsbereiche. Der Hinweis auf Fernsehauftritte, Presseartikel und Kunstausstellungen charakterisiert sie als national wie international bekannte Person. Ihre mediale Präsenz wird dann noch ausdrücklich belegt mit Hinweisen auf Auftritte in öffentlich-rechtlichen Medien bei teilweise recht bekannten Moderatoren oder Talkmastern (Jürgen von der Lippe; Johannes B. Kerner).

Die weiteren biographischen Angaben zeichnen einen mit Schulbildung, Studium und Lehrberuf zunächst recht „normalen“ Lebenslauf, der mit dem Hinweis auf einen zweiten Wohnsitz in den Arabischen Emiraten und auf ihre Tätigkeit in den dortigen königlichen Ställen eine eigene Note bekommt.

Hinsichtlich der Neigung zur Tierkommunikation zieht der Artikel eine durchgängige Linie. Sie beginnt mit einer kindlichen Fähigkeit zur Wahrnehmung tierischer Befindlichkeiten, die im weiteren Verlauf durch Aufenthalte in Afrika und Asien durch „die Lehren der Urvölker“ bereichert wurde. Darin kommt ein zivilisationskritischer Aspekt zum Ausdruck. Der Hinweis auf den seit 1996 einsetzenden Einfluss der amerikanischen Tierkommunikation in Deutschland führte zu einer Art Coming Out: „Als die Tierkommunikationsbewegung (Animal Communication) ca. 1996 von Amerika nach Deutschland übergriff, machte sie ihre mentalen Fähigkeiten öffentlich.“

Recht ausführlich werden die von ihr ausgeübten Vorgehensweisen und Methoden sowie weitere tierbezogenen Aktivitäten geschildert, wobei dem Umgang mit Pferden eine besondere Rolle zukommt. Wie sie bei tierkommunikativen Eingriffen vorgegangen ist, zeigt ein Video mit dem Fall des aggressiven Hängebauchschweins Fred, das durch eine weinrote Decke, Erdbeeren, Kuchen, Sahnekuchen und „Matsche“ besänftigt wird. (http://www.myvideo.de/watch/5580775/Gudrun_Weerasinghe_Tierkommunikation) In einigen anderen Videos nimmt sie selbst zu ihren Praktiken der Tierkommunikation Stellung.

2.4. Ad fontes: „founding pioneer, Animal Communication Specialist, Penelope Smith“

Über die Gründerin und Vorreiterin der Tierkommunikation informiert eine Reihe von Websites zur Tierkommunikation. Immer wieder wird dort Penelope Smith als Pionierin, Vorbild, Lehrerin oder Anleiterin genannt, so auch bei Christine Tetau, die in ihren biographischen Auskünften auf ihrer Website schreibt (http://www.tierkommunikation.de/biographie.html):

Ich absolvierte die Ausbildung zur Tierkommunikatorin und später Lehrerin für Tierkommunikation nach Penelope Smith. Die US-Amerikanerin ist die Pionierin auf diesem Gebiet und ihr Buch „Gespräche mit Tieren“, erschienen im Reichel-Verlag, gilt als Standardwerk unter interessierten Tierfreunden.

Smith selbst feiert auf ihrer Website (http://www.animaltalk.net/) „the 35 year anniversary of the classic, foundation book Animal Talk”. Es liegt in 7. Auflage vor; die erste war 1978 erschienen. Die deutsche Übersetzung ist neben anderen Publikationen von Penelope Smith bei dem auf Spiritualität, Esoterik, Tierkommunikation und Gesundheit spezialisierten Reichel-Verlag unter dem Titel Gespräche mit Tieren. Praxisbuch Tierkommunikation erschienen; mir liegt ein Exemplar der vierten Auflage von 2007 vor.

2.4.1 Gespräche mit Tieren

In den beiden ersten Kapiteln geht Smith auf Grundlagen und Konzepte der Tierkommunikation ein. Sie behandelt zunächst die Frage „Wie Tiere kommunizieren“ (Kapitel 1), propagiert dann das Postulat der allen Wesen angeborenen Fähigkeit zur telepathischen Kommunikation mit Tieren. Mit dem Spracherwerb und durch Intervention Erwachsener werde sie im Prozess der Enkulturation unterdrückt und verdrängt und gehe zumeist gänzlich verloren. Im zweiten Kapitel geht es um das Ziel „Die Fähigkeit wiedergewinnen, telepathisch zu kommunizieren“. Die weiteren Kapitel des Buches dienen der Anleitung zur Kommunikation mit Tieren.

Die Grundüberlegungen der beiden ersten Kapitel finden sich im Kern sowohl inhaltlich wie auch in der argumentativen Anlage auf fast allen Websites von Tierkommunikatorinnen. Deshalb gehe ich etwas ausführlicher auf diese zwei Kapitel ein.

2.4.1.1 Versetzung/Empathie; Angeborenheit telepathisch-kommunikativer Fähigkeiten/Verlust durch Spracherwerb und Enkulturation

Unter der Kapitelüberschrift „Die angeborene Fähigkeit, telepathisch zu kommunizieren“ verweist Smith zunächst auf eigene frühkindliche Erfahrungen:

Wie die meisten Kinder liebte auch ich als Kind Tiere. Es machte mir Spaß, sie zu streicheln, sie zu beobachten und ihnen nahe zu sein. Ganz intuitiv war ich fähig, das zu fühlen, was sie fühlten, und verstand, was sie brauchten. Ich konnte so gut wie sie in sie hineinschlüpfen und so sein wie sie. [Smith 2007, 12]

Diese Erfahrung formuliert sie dann in ein universelles Postulat um:

Allen Wesen ist es angeboren, miteinander zu kommunizieren und sich untereinander zu verstehen. Alle oder fast alle kleinen Kinder kennen die mentale oder telepathische Kommunikation mit anderen aus einer anderen Gattung. Bevor sie sprechen lernen, kommunizieren sie, neben Körpergesten, hauptsächlich auf diese Art.
Aber sobald Kinder lernen zu sprechen, neigen sie dazu, ihre Fähigkeiten mittels Gedanken zu kommunizieren, zu unterdrücken, weil die Sprache von Erwachsenen besonders hoch geschätzt und gefördert wird und größte Aufmerksamkeit bekommt. So verblasst die Fähigkeit zur Telepathie wie jede andere Fähigkeit, die nie benutzt wird. Außerdem werten die Eltern und andere Erwachsene Äußerungen von Kindern wie „unser Hund hat mir von seinem Bauchweh erzählt“ häufig als bloße Erfindung oder Übertreibung ab oder bestrafen das Kind als Lügner. […] Daher unterdrücken sie diese Fähigkeit oder sie verschwindet einfach, weil man eine Fähigkeit nicht aufrecht erhalten kann, die es nicht geben kann. Und so hören sie auf, ihre Tiergefährten als denkende und fühlende Wesen anzusehen. [ebd., 13]

Smith bezieht hier eine nativistische Position und grenzt sich explizit von behavioristischen Ansätzen ab; hier scheint die von Noam Chomsky eingeleitete „kognitive Wende“ durchzuschlagen.

2.4.1.2 Telepathie und Zivilisationskritik

Tierkommunikation gilt ihren meist weiblichen Betreibern als telepathische Kommunikation; Smith definiert sie wie folgt:

Die Silbe „Tele“ hat etwas mit Entfernung zu tun, „pathie“ bezieht sich auf das Fühlen. Es handelt sich hierbei […] um eine Fähigkeit, die den Wesen jeder Spezies inklusive dem Menschen angeboren ist. Telepathie ist […] eine Verknüpfung, ein direkter Zugang zu der Seele aller Wesen. Es ist eine geistige Verständigung, die ohne den Kopf einzuschalten funktioniert; es ist das Wissen, was der andere gerade denkt, fühlt und erlebt, so hautnah, dass fast das eine Wesen zu dem anderen wird.
[…] Es ist die Erfahrung, eine direkte Übertragung von Bildern, Gefühlen und Vorstellungen von Individuen zu empfangen […]. Telepathische Kommunikation vollzieht sich über weite Entfernungen durch Wände und andere Hindernisse hindurch. [ebd., 27]

Die Hinwendung zur telepathischen Tierkommunikation erfolgte bei Smith kurz nach dem Antritt eines durch behavioristische Ansätze geprägten Studiums der Psychologie im Jahr 1964. Schnell wendet sie sich von diesem Ansatz ab, der „den geistigen Aspekt in Abrede“ stellt (Smith 2007, 32) und kehrt „zurück zu einem erneut lebendigen Verständnis meiner selbst und allen Lebens um mich herum“ (ebd., 33).

Deutlicher kann die spirituelle Grundorientierung der Tierkommunikation kaum zum Ausdruck kommen, die in den Biographien ihrer Betreiber nach deren eigenem Bekunden zu Brüchen, Um- und Neuorientierungen geführt hat. Nicht selten wird dies in einer Weise berichtet, die an die Bekehrung des Saulus zum Paulus erinnert, und so die Hinwendung zum neuen und richtigen „Glauben“ sowie zu der damit verbundenen Lebens- und Handlungsweise geschildert. Damit kommt zugleich das persönliche Bekenntnis zu dem neuen/jetzigen Glauben zum Ausdruck.

Auf welchem Weg man auch zur Tierkommunikation kommt, man wird ein neuer Mensch: „Dies ist ein spiritueller Weg, der eine Veränderung bedeutet, ein Ablegen von gesellschaftlich anerzogenen Mustern und Gewohnheiten.“ (ebd., 33) So jedenfalls sehen es die Tierkommunikatorinnen und Tierkommunikatoren.

2.4.1.3 Persönliche Erzählungen zur Kommunikation mit (meist individualisierten) Tieren

Wie Smith ausführlich berichtet, war dieser Wandel bei ihr durch die enge Beziehung zu ihrem Kater Fritzi ausgelöst worden; beide schliefen „wie zwei ineinander liegende Mondsicheln […] Fritzi und ich verstanden einander aufs Tiefste“ (ebd.,31). Sofort nach ihrem Wegzug „bekam Fritzi mehrere Krankheitsattacken an Nieren und Darm und verstarb einige Monate später.“

Nach dem argumentativen Muster „post hoc ergo propter hoc“ werden Krankheit und Tod des Tieres auf den Wegzug der Verfasserin zurückgeführt. Sie selbst argumentiert als zutiefst Betroffene und als Gewährsfrau. Dabei spielt eine doppelte Individualisierung bzw. Personalisierung durch namentliche Nennung eine Rolle: die des berichtenden, namentlich bekannten Ich (Penelope Smith) und die des mit Namen (Fritzi) genannten Tieres (Kater). Bei der Durchsicht weiterer Websites zur Tierkommunikation zeigt sich, dass diese Individualisierung bzw. Personalisierung durch namentliche Nennung von Mensch und Tier die gesamten Texte und Darstellungen durchzieht. Denn wie bei Smith sind auch sie von unzähligen persönlichen Erlebnisberichten im Umgang mit Menschen und in der Regel mit Geschichten von namentlich benannten Tieren durchsetzt.

2.4.1.4 Franz von Assisi als Helfer

Dabei taucht dann auch Franz von Assisi, als angerufener und hilfsbereiter Nothelfer auf. Smith lässt einen Jerry Ryan mit einem Bericht zu Wort kommen, der „von einer Erfahrung [erzählt], die die Rolle der Liebe und den Glauben an Wunder beschreibt“ (ebd., 52): „Ich bitte jedes Mal, wenn ich zu den Tieren Kontakt aufnehme, den heiligen San Franziskus von Assisi um seine Unterstützung, damit ich ihnen das geben kann, was sie benötigen.“ Als eine Frau telefonisch um Hilfe bittet, weil ein in ihre Wohnung geflogener Kolibri nicht mehr ins Freie kommt, bittet er „San Franziskus und alle da oben […], dem kleinen Vogel den Weg in die Freiheit und Sicherheit zu zeigen.“ Eine Weile später ruft die Frau zurück und berichtet mit einer gewissen Ehrfurcht, „dass es scheine, als sei der Vogel von unsichtbaren Händen zu dem offenen Fenster getragen worden. Auch ich war in Ehrfurcht; ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich San Franziskus um Hilfe gebeten hatte.“ (ebd., 53). Hier wird ebenfalls nach dem Muster „post hoc ergo propter hoc“ geschlossen.

2.4.2. Mischung von Mensch und Tier

Das Bild auf der Umschlagseite der Gespräche mit Tieren verdeutlicht optisch ein Konzept der Tier-Mensch-Beziehung, die beide miteinander vermengt und sie auf eine Stufe stellt. Tier und Mensch werden hier als konzeptuelle Einheit dargestellt:

https://i0.wp.com/www.reichel-verlag.de/Bilder/L/978-3-926388-69-8.jpg

Man kennt derlei Verbindungen aus Märchen, Sage und bildender Kunst, und die kleine Meerjungfrau von Andersen dürfte ein mit anderen Nixen weithin bekanntes Beispiele sein.

Doch anders als bei einer See- oder Meerjungfrau und bei anderen Nixen ist die Komposition des Mensch-Tier-Wesens auf dem Titelbild zu Gespräche mit Tieren nicht horizontal und additiv (oben Jungfrau, unten Fisch), sondern vertikal und durchgängig (die eine Hälfte Frau, die andere Hälfte Katze); das neue Wesen ist weniger nur „Tier + Mensch“ sondern eher „sowohl Mensch als auch Tier“. Konzeptuell lässt sich das mit dem Ansatz des „Conceptual Blending“ als „Conceptual Integration“ beschreiben (http://markturner.org/blending.html; http://en.wikipedia.org/wiki/Conceptual_blending) und in der Bildlichkeit als „visual blend“ (http://www.tulane.edu/~howard/LangIdeo/Rohrer/Rohrer.html). Dabei geht es um einen Effekt, der z. B. im Deutschen bei der Komposition „Butterbrot“ eintritt: Das dabei evozierte Konzept geht über die Summe der Bedeutungen der Lexeme „Butter“ und „Brot“ hinaus; es hat weitere konzeptuelle Elemente wie „Schneiden von Brotscheiben“, „Verwendung eines Messers oder Spatels“, „Abtragen eines Teils eines Stücks Butter“, „Auftragen von Butter auf die Scheibe(n)“. Ähnliches soll wohl für das Bild der „Katzenfrau“ gelten.

3. Wege zur Tierkommunikation: biografische Selbstauskünfte

Dem tierkommunikativen Verständnis nach haben die Beziehungen zwischen Mensch und Tier eigene kommunikative Funktionen, die sich im Leben der beteiligten Wesen vor allem in entscheidenden Situationen niederschlagen. Das jedenfalls bringen Tierkommunikatoren in den wohl als obligatorisch eingeschätzten Selbstauskünften im Internet immer wieder zum Ausdruck. Sie informieren darüber, welche Person und welcher Werdegang hinter dem jeweiligen Betreiber der Seite stecken. Da diese Selbstauskünfte zentrale und für wichtig gehaltene Aspekte der Tierkommunikation zur Sprache bringen, sollen einige zu Wort kommen. Ich habe dazu Seiten ausgewählt, die im ersten Halbjahr 2013 mehr oder weniger regelmäßig bei google.de bei den Ergebnissen zum Suchwort „Tierkommunikation“ unter den ersten zehn Treffern waren. Auch wenn die so erzielten Resultate nicht unbedingt „repräsentativ“ sein können, symptomatisch sind sie allemal.

3.1 Die Ländliche durch ihr Pferd und ihr Herz Bekehrte Karin Schwarzer schreibt:

Ich bin 1974 geboren und zusammen mit vielen verschiedenen Tierarten auf einem Bauernhof aufgewachsen. Dadurch habe ich viel Zeit in der Natur mit Tieren verbracht. Meine berufliche Laufbahn hat als Bürokauffrau und Bilanzbuchhalterin begonnen. Doch dann hat mein Pferd mich durch viele schwierige Situationen auf etwas aufmerksam gemacht: Ich muss einen neuen Weg gehen. Ich bin dem Ruf meines Herzens gefolgt und wurde Tiertelepathin. Seit dem Jahr 2005 bin ich hauptberufliche Tierkommunikatorin und Lehrerin für Tierkommunikation. [http://www.tierkommunikation.co/ueber-mich/ueber-mich.html]

3.2 Bei der durch eine Stute auf den Weg gebrachten „Meisterin“ Christine Tetau heißt es:

Aufgewachsen mit Tieren, die als gleichwertige Mitglieder der Familie betrachtet wurden, hielt ich meine Fähigkeit, sie zu verstehen, zunächst für Intuition oder Einfühlungsvermögen. Nach einem einschneidenden Erlebnis mit meiner Stute Sheila im Frühjahr 1999 beschloss ich schließlich, dem Thema größere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich absolvierte die Ausbildung zur Tierkommunikatorin und später Lehrerin für Tierkommunikation nach Penelope Smith. [http://www.tierkommunikation.de/biographie.html]

Diese Ausbildung war offensichtlich so erfolgreich, dass sich andere bei Frau Tetau zur Tierkommunikatorin ausbilden ließen, so Maren Lubrich und Yvonne Sebestyen.

3.3 Die vormalige Skeptikerin Maren Lubrich bekundet:

Obwohl ich mein ganzes Leben mit Tieren aufgewachsen bin und immer offen für das Unvorstellbare war, fiel es mir schwer an Tierkommunikation zu glauben. Dass Tiere eine Seele und ein intensives Gefühlsleben haben[,] war mir natürlich klar. […] Als es jedoch unserer Hündin Mati länger nicht gut ging […], beschloss ich, die Tierkommunikation einmal auszuprobieren. […] Weiterhin skeptisch suchte ich mir im Internet eine Frau heraus, die uns garantiert nicht kennen konnte[,] und schrieb ihr eine Email [sic] nebst einem Foto von Mati. In einem darauf folgenden Telefonat erzählte sie mir, wie sich unsere Tiere untereinander verstanden, wer welches Verhältnis zu wem hatte und vieles mehr. Und wir bekamen den erhofften Hinweis auf Matis Unwohlsein. [http://www.tierkommunikation-rosengarten.de/]

3.4 Die auf zwei Kater hörende Yvonne Sebestyen schreibt:

Zur telepathischen Kommunikation mit Tieren kam ich durch ein Schlüsselerlebnis mit meinen beiden Katern Anton und Fistus. Als ich am Abholtag in ihr Tierheimgehege kam, schaute mich Anton, der größere der beiden, an und schickte mir in Gedanken deutlich die Worte: „Du hast aber ganz schön lange gebraucht.“ […] Durch das Schlüsselerlebnis mit Anton neugierig geworden, bat ich meine spätere Mentorin Christine Tetau bald darauf zu einem Hausbesuch, um zu erfahren, ob ich noch etwas besser machen konnte. Die Erkenntnisse aus diesem Gespräch entfachten meine Neugier erst recht, so dass ich beschloß [sic], selbst die Tierkommunikation zu erlernen, um meine Kater besser zu verstehen. [http://www.versteh-dein-tier.de/meinweg.htm]

Die drei letzten Auskünfte lassen ein Muster erkennen, das der Meister-Jünger- oder Lehrer-Schüler-Beziehung im Neue Testament ähnelt, wobei hier Tiere die Bekehrung auslösen. Bei mehrfachem Durchlauf des Musters kommt es wie in unseren Fällen zur Missionierung und Verbreitung des ‚neuen Glaubens Tierkommunikation‘. Die Medien seiner Verbreitung reichen von der Mund-zu-Mund-Propaganda bis hin zum Internet. Dort ist Tierkommunikation über die Websites ihrer Betreiber, deren Selbstdarstellungen, sowie in Beiträgen zu YouTube und in dort dokumentierten Auftritten in Radio- und Fernsehsendungen sehr gut vertreten. Ein Blick auf die Hinweise, die amazon.de in der Sparte „Bücher“ zu dem Suchwort „Tierkommunikation“ liefert, zeigt, dass dies auch für den Printbereich zutrifft. Viele drängt es dazu, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen einem breiteren Publikum gegen Bezahlung zugänglich zu machen. Dies gilt nicht nur für Publikationen, sondern auch für Beratungen und Kurse über Tierkommunikation oder zur schritt- und stufenweisen Einführung in sie.

3.5 Die auf ihre sterbende Hündin hörende Susa Zwernemann berichtet von sich:

Als meine kleine Mischlingshündin Lisa verstarb[,] hatte sie die Botschaft an mich die Tierkommunikation zu vertiefen und zu intensivieren, da ich vielen Tieren und Menschen dadurch helfen könne. Ich war bemüht ihrem Rat zu folgen, hatte jedoch Hemmungen, anderen die Mitteilungen der Tiere darzustellen. Ich fühlte mich lange Zeit, trotz nachprüfbarer Ergebnisse, unsicher in den Aussagen und kommunizierte nur für Freunde und Bekannte[,] die verblüfft waren. [http://www.tierkommunikation.info/ueber_mich.html]

 Ihrer Einschätzung nach hat die Tierkommunikation einige Zeit gebraucht, um sich in einer breiteren Öffentlichkeit durchzusetzen. Das lässt vermuten, dass es eine mehr oder weniger große Skepsis gegenüber dieser neuen Art des kommunikativen Umgangs mit Tieren gegeben hat und wohl weiterhin noch gibt.

Damals ging man noch nicht so frei mit dieser Art von Kommunikation um wie heute. Ich blieb also lieber im Hintergrund und entwickelte in dieser Zeit autodidaktisch meine eigene Art mit Tieren zu kommunizieren anstatt es nach bestimmten Ritualen anderen nachzuahmen. [ebd.]

3.6 Die promovierte Ex-Psycholinguistin Dr. Sabrina Hinneberg zeigt, dass auch Akademiker den Weg zur Tierkommunikation finden können:

Die Liebe zu den Tieren und die Freude an Sprache begleiten mich schon mein ganzes Leben lang. Nachdem ich mich viele Jahre als Psycholinguistin intensiv mit der Kommunikation von Mensch zu Mensch befasst habe, lernte ich die Möglichkeit der Kommunikation zwischen Tier und Mensch kennen: die Tierkommunikation. Seitdem hat sich mein Leben wunderbar verändert: Ich kann nun meine Herzensthemen Tiere und Sprache miteinander verbinden und die berührende Erfahrung der Kommunikation mit Tieren an andere Menschen weitergeben. [http://www.rederaum.com/zur_person.html]

Frau Hinneberg listet neben ihrem Werdegang heilerische und esoterische Qualifikationen auf: „Forschung & Lehre am Institut für Psycholinguistik & Sprechwissenschaft (Universität München); Sprachtherapeutin für Erwachsene & Kinder; Trainerin & Coach für Rhetorik & Kommunikation; Redakteurin & Lektorin; Tiermedium seit 2005“. Weiterhin:

Zusätzliche Aus- & Weiterbildungen:
– Tierkommunikation (bei Dr. Lysa Jean Farmer, Maria Hubert, Dr. Nicole Schöffmann)
– Tierlichtheilung
– Divine Healing© Stufe I & II
– Magnified Healing©
– Kabbala
– Aura-Reading (bei Dr. Lysa Jean Farmer)
– Aura-Sound Klangpädagogik (bei Dr. Lysa Jean Farmer)
– Aura-Soma© Beraterin der Stufe III (bei Khushbu Rita Deutschmann)
– Heilen mit Symbolen und Informationsübertragung durch Körbler‘sche Zeichen (bei Roswitha Stark)
– Schulung der Wahrnehmung (bei Yvonne Grevenitz)
– Energieausgleich durch Nummerologie (bei Ida Linner)
– Workshop „Equine Healing“ (bei Margrit Coates)
– Bachblütentherapie-Seminar B1 (bei Mechthild Scheffer) [ebd.]

Solche Auflistungen vielfacher, breiter und vielseitiger Bereiche von Ausbildungen, Aktivitäten und oft auch von Dienstleistungsangeboten sind bei Selbstdarstellungen im Bereich der Tierkommunikation gängig. Sie dienen zur Aufwertung der jeweiligen Person und zur Einbettung der tierkommunikativen Aktivitäten in einen breiteren esoterischen, spirituellen und heilerischen Kontext. Die Nennung von Lehrern soll den Eindruck von Seriosität vermitteln, aber auch den einer vielfältigen und breiten Kompetenz nach dem Motto: „viel hilft viel“; zudem wird Vertrauenswürdigkeit suggeriert. Mit der Breite des Angebots steigen nicht zuletzt auch die Verdienstmöglichkeiten.

Nicht alle sind dabei so selbstkritisch wie Peter Demel, der in seiner äußerst knappen Selbstpräsentation schreibt:

Ich könnte noch erwähnen, dass ich ein [sic] Abschluß in Naturwissenschaften an der Universität Heidelberg gemacht habe, aber aus diesem Grund sind Sie ganz bestimmt nicht auf dieser Webseite [sic]. [http://www.tierkommunikation-tierheilung.de/ueber-mich.html].

Hinweise auf akademische Abschlüsse und Werdegänge dienen dennoch als positive und aufwertende Merkmale.

3.7 Die Kooperative: Ilka Erraoui (vormals: Müller) ist in ihren Selbstauskünften vergleichsweise sparsam und nüchtern und spricht von sich selbst in der dritten Person. Zu ihrem „Werdegang mit Tieren“ erfährt man auf ihrer Website:

2004 – 2007 Ausbildung zur Tierkommunikatorin nach Penelope Smith
2005 bei der amerikanischen Tierkommunikatorin Amelia Kinkade
2006 / 2007 Ausbildung zur osteopathischen Pferdetherapeutin nach Welter-Böller
2006 Gründung von Kommunikation zwischen Mensch und Tier
2006 – heute Professionelle Tierkommunikation

Arbeit
Als Tierkommunikatorin nutzt Ilka das Wissen und das medizinische Verständnis[,] um in den Kommunikationen neben den psychischen auch die physische [sic] Probleme der Tiere besser abklären und einschätzen zu können.“ [http://www.die-sprache-der-tiere.de/4.html].

Ganz deutlich ist folgender Hinweis:

Die Arbeit mit Tieren ersetzt keine tierärztliche Beratung oder Behandlung, ist jedoch eine ernst zu nehmende Ergänzung. Es werden keine medizinischen Diagnosen gestellt. Jedoch wird gerne zwischen Tier und Halter, auf Wunsch auch zwischen den behandelnden Tiermedizinern oder Therapeuten vermittelt. [ebd.]

Ähnlich klärende und wohl vor falschen Erwartungen und möglicherweise auch vor Klagen schützende Hinweise findet man auch auf den Unterseiten zur Tierkommunikation; Frau Erraoui geht hier insofern weiter, als sie auf ihrer Seite nicht nur Kontaktadressen von Tierärzten und -kliniken aufführt, sondern zudem auf einen Film bei YouTube verweist, in dem sie mit einer Tierärztin auftritt (http://www.youtube.com/watch?v=NiE8LQc0vjw).

3.8 Von kindlicher Tierliebe zum Beruf führte der Weg von Cathrin Seibt. Sie hat mit dem Verständnis und der Unterstützung ihrer Eltern ihren Kleinmädchentraum vom Zusammensein und Umgang mit Tieren verwirklicht, ist Tierpflegerin und schließlich Tierkommunikatorin geworden:

Am 05.09.1980 in Hamburg geboren, war sehr früh klar, wohin mich mein Weg führt. Im Alter von 4 Jahren war ich auf einem Familienurlaub in der Lüneburger Heide plötzlich verschwunden. Mein Vater fand mich zwischen den Beinen eines Pferdes, mit dem ich tags zuvor Freundschaft geschlossen hatte. „Schecki“ und ich schliefen fest aneinander gekuschelt. […] Meine Arbeit mit Tieren wurde zum Beruf, als ich endlich verstand, dass „Beruf“ von „Berufung“ kommt. [… ] Während meiner Zeit im Wildpark begann meine Ausbildung zur Tierkommunikatorin. [http://www.tierisch-verstehen.de/mein-profil]

Auf der Startseite (http://www.tierisch-verstehen.de/) berichtet sie über ihren Auftritt in der TV-Sendung des NDR „Mein Nachmittagvom 2.1.2012.

3.9 Fazit

Die zitierten biografischen Selbstauskünfte zeigen, dass einige auf ein oft namentlich genanntes Tier „gehört“ haben und dadurch mit Tieren zur Tierkommunikation kamen. Bei anderen geschah dies durch Hinweise dritter Personen. Fast alle hatten, oft schon von Kindesbeinen an, Umgang mit Tieren. Eine hat den Mädchentraum mit dem Weg zur Tierkommunikation verwirklicht und war nicht, wie andere, von dort abgekommen, um dann erst auf den Weg zur Tierkommunikation zu finden.

Deutlich ist auch der Bezug auf Penelope Smith als Autorität und direkte oder indirekte Lehrerin; ihre Ansichten, Thesen und Praktiken hat sie an ihre Schülerinnen weitergeben, die sie dann in einer Art Kette von Schülern und Schülerinnen selbst weitergereicht haben. Dabei fungieren Hinweise in der Art „Ausbildung durch bzw. nach Penelope Smith“ oder der Verweis auf andere Personen und Verfahren in ihrer Nachfolge als Qualifikationsausweis. Liest man mehrere Websites der Tierkommunikation, entsteht der Eindruck eines zusehends dichter gespannten und ausgedehnten Netzwerks ihrer Betreiber.

4. Tierkommunikation als Forschungsgegenstand?

Die vorgängigen Ausführungen sollten auf die Tierkommunikation als aktuelles, relativ junges Phänomen hinweisen, über das die verschiedensten Medien berichten und das sich im Internet zusehends ausbreitet. Wenn zudem bei amazon.de in der Rubrik „Bücher“ das Suchwort „Tierkommunikation“ 65 Seiten lang Titelhinweise gibt, lässt dies – auch wenn nicht alle Titel einschlägig sind – ein steigendes verlegerisches Interesse an dieser Sparte erkennen – und dabei offensichtlich auch an Büchern von Tierkommunikatoren. Und das gilt nicht nur für Verlage, die auf Esoterika spezialisiert sind. Ein Blick auf die Einbände dieser Bücher lässt auf drei große Zielgruppen schließen: zum einen spiritualistisch-esoterisch Interessierte wie beim Titelbild des Buchs von Penelope Smith (s. o.); zum anderen Reiter, Pferdeliebhaber und -besitzer wie bei dem Buch Tierisch gute Gespräche von Amelia Kinkade; und schließlich Halter von Klein- und Haustieren, wie im Fall von Karen Pryor, darunter auch tierliebende Kinder.

https://i0.wp.com/www.weltbild.de/media/ab/2/056856498-tierisch-gute-gespraeche.jpg

https://i0.wp.com/www.spass-mit-hund.de/wp-content/uploads/cover-pryor-die-seele-der-tiere-erreichen-200x316.jpg

Dieser Zusammenhang könnte von kulturwissenschaftlichem Interesse sein: Welche Bilder von Tieren und Menschen und von ihren Beziehungen werden hier entworfen? Wie „funktionieren“ sie? Gibt es bei all dem eine Art immanenter sozialer und sozialpsychologischer Strukturierung? Sind bei allen Gemeinsamkeiten der Gruppen kulturelle und soziale Differenzierung erkennbar? Wenn ja, welche?

Bei den Lesern wird dabei neben der Liebe zu Tieren gerade im Fall der Pferde ein nicht geringes ökonomisches Interesse angesprochen, da der im Zuge größeren Wohlstands zusehends verbreitete Reitsport und die gesteigerte Pferdehaltung weit mehr finanziellen Aufwand erfordern als die Anschaffung, Haltung und Pflege von Klein- und Haustieren.

So nimmt es nicht Wunder, wenn Kritiker wie Wolfgang Hund und Colin Goldner auf der Website der Fachzeitschrift Cavallo vor tierheilerischen und tierkommunikativen Aktivitäten warnen.

Das Urteil von Colin Goldner fällt dabei harsch aus:

Telepathische Tierkommunikation halte ich für zynische Geschäftemacherei mit den Nöten besorgter Pferdehalter. Wird sie zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken eingesetzt, reicht das schon fast an den Rand des Kriminellen. Völlig indiskutabel ist telepathische Kommunikation mit toten Tieren, die aus dem Jenseits Rat und Lebenshilfe geben oder mitteilen, wann und wie sie wiedergeboren werden. […] Die einen glauben tatsächlich an ihre vermeintlichen Fähigkeiten; die anderen wissen, dass es solche gar nicht gibt und sie ihren Kunden nur Humbug verkaufen. Von außen kann man kaum erkennen, ob es sich bei der einzelnen Anbieterin eher um einen Fall für den Psychiater oder für den Staatsanwalt handelt.

Wolfgang Hund ist etwas konzilianter, dann aber ebenso eindeutig ablehnend:

Ich würde die beiden Sachen trennen. Bei der Tierkommunikation kann es ja tatsächlich sehr sensible Menschen geben, die unbewusst kleinste körpersprachliche Regungen des Pferds lesen und interpretieren. Das machen wir übrigens im Alltag alle ständig mit unserem Gegenüber.

Das legt die Frage nahe, ob manche der beschriebenen Phänomene durch Spiegelneurone erklärbar sein könnten (Bauer 2005; http://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelneuron). Das aber ist ein weites Feld …

5. Am Schluss eine belletristische Lektüreempfehlung zum Themenbereich

Der 2012 bei C.H. Beck erschienene Roman Traurige Therapeuten von Ingomar von Kieseritzky sei zu solch lustvoller Lektüre empfohlen, wie ich sie selber hatte. Tiere und ihre Therapeuten spielen darin eine ganz zentrale Rolle; es geht, wenn man so will, auch um Tierkommunikation. Der Klappentext verspricht wahrlich nicht zu viel:

Herr Singram ist mit der besten aller Welten mehr als unzufrieden und zieht sich enttäuscht und leicht angeschlagen in ein Sanatorium zurück, um endlich schriftlich zu fixieren, welche Lebensmanöver er mit Hilfe von Frauen, Tieren und weltflüchtigen Compagnons bestanden hat. Lässt seine Erinnerungsfähigkeit nach, versenkt er sich in die anekdotischen Tagebücher seiner Vorfahren, die alle eine Schwäche für Tiere hatten – Urgroßvater Irin war Zobeljäger, sein Sohn Edward unterhielt in England einen Privatzoo; dessen Sohn malt die Tiere – berühmt ist seine „Arche Noah sticht in See“ […].

Literatur

Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst: intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hamburg 2005.

Dichtl, Fritz: Sprechende Tiere in Literatur und visuellen Medien. Eine volkskundliche Untersuchung zur Beziehung Mensch – Tier. Diss. Augsburg. Philologisch-Historische Fakultät. Europäische Ethnologie / Volkskunde 2008.

Ecker, Hans-Peter: Legenden. Heiligengeschichten vom Altertum bis zur Gegenwart. Ditzingen 1999.

Goldner, Kevin: Vorsicht Tierheilpraktiker. „Alternativveterinäre“. Diagnose- und Behandlungsverfahren. Aschaffenburg 2006 .

Huth, Anne: Sprechende Tiere in Literatur und Film. Ein Überblick anhand ausgewählter Beispiele. Studienarbeit. 2006.

Kieseritzky, Ingomar von: Traurige Therapeuten. Roman. München 2012.

Loetscher, Hugo: Der predigende Hahn. Das literarisch-moralische Nutztier. Zürich 1992.

Smith, Penelope: Gespräche mit Tieren. Praxisbuch Tierkommunikation. (Engl. Originalausgabe 1999). 4. Aufl. Weilersbach 2007.

„Schärfer als der Stachel einer Biene“ (Parzival, V. 297,12)

Metapher, Symbol und Maß. Zur erzählerischen Funktionalisierung von Tieren im Mittelalter

Von Kai Lorenz

Auf der Höhe der aggressiven Expansion des Lifestyle-Kaffeefilialisten Starbucks gegen Ende der 1990er Jahre kam in der amerikanischen Umgangssprache der Begriff one-Starbucks-town für eine kleine langweilige rückständige Stadt auf. Der Ausdruck ist damit als modernisierte Variante des bekannten wenn auch anachronistischen Idioms one-horse-town zu lesen. Während sich bis in die 1920er Jahre der Wohlstand und die Fortschrittlichkeit einer Gemeinde tatsächlich bis zu einem gewissen Grad an der Anzahl der von den Einwohnern gehaltenen Pferde ablesen ließen, müsste die Entsprechung seither eher an der Menge an Automobilen bemessen sein, ein solcher Ausdruck existiert aber nicht. Dass one-horse-town heute noch existiert, gebraucht und auch verstanden wird, obwohl der alltäglich reale Kontext, auf dem seine Bedeutung fußt, gänzlich der Vergangenheit angehört, zeugt von der Verankerung seiner Metaphorik im kulturellen Gedächtnis. Im geistigen Bild des Rezipienten entsteht, zusammengesetzt aus eigenen Erinnerungen und Erfahrungen aus Erzählungen, Filmen, Bildern etc., das Bild einer drögen kleinen Stadt und ganz selbstverständlich transponiert dieser die Metaphorik auf die heutigen Verhältnisse – sei es gemessen an Starbucks oder anderen aussagekräftigen Merkmalen. Das Tier, in diesem Fall das Pferd, erscheint damit als Maßeinheit, als Mittel des Menschen um seine Umwelt zu beschreiben und diese Erkenntnisse anderen Individuen verständlich mitteilen zu können. Dies existiert sowohl in der kulturwissenschaftlichen Bedeutung wie im obigen Beispiel, als auch in festgelegten naturwissenschaftlichen Größen, wie der bis heute gebräuchlichen Maßeinheit der Pferdestärke, die sich, obwohl offiziell seit Jahrzehnten durch die Maßeinheit Kilowatt abgelöst, doch hartnäckig im Sprachgebrauch hält. Auch hier ist die Verwendung des Begriffes losgelöst von der Kenntnis der ursprünglich für seine Entstehung ausschlaggebenden Größe. Während bei Ihrer Festlegung durch den schottischen Ingenieur James Watt im 18. Jahrhundert dies eine allgemein verständliche Maßeinheit darstellte, dürfte heute so gut wie niemand, der ein Automobil oder Motorrad kauft, eine Vorstellung von der Kraft eines einzelnen Pferdes haben, da diese nicht länger Bestand des Alltages und der Arbeitswelt sind. Dennoch verbindet auch der heutige Sprecher aus eigenen Erfahrungswerten heraus auch hier eine mehr oder weniger genaue Vorstellung mit dem Bezeichneten.

Die Verwendung von Tieren zur Bezeichnung von naturwissenschaftlichen Größen ist, solange nicht mathematisch genau definiert, ein ebenso ungenaues wie praktikables Vorgehen: ungenau, weil Kraft, Größe und Aussahen der einzelnen Exemplare je nach Rasse, Alter und diversen individuellen Gegebenheiten sehr unterschiedlich ausfallen, praktikabel, weil sie trotz dieser Toleranzen – derer sich Sender um Empfänger ja durchaus bewusst sind – in Zeiten, in denen normierte und weltumspannend standardisierte Maße und Gewichte noch nicht definiert bzw. verfügbar waren, eine verständliche und anschauliche Methode darstellten um derlei Größen zu kommunizieren. Dies geschieht natürlich nicht systematisch, weist zwangsläufig große regionale Differenzen auf, und mit Sicherheit sind viele solcher Vergleiche mittlerweile in Vergessenheit geraten. Wo sie aber ans Tageslicht treten – ob im täglichen Sprachgebrauch oder in älteren schriftlichen Tradierungen –, stehen sie im Kongruenzbereich von Natur- und Kulturwissenschaften und bilden damit ein kleines aber wirkmächtiges Teil im Puzzle der menschlichen Geistesgeschichte.

Literarisch finden solche Tierbezüge nur vergleichsweise spärlichen Niederschlag, denn die Darstellung richtet sich eher auf das hermeneutisch Symbolische. Gerade für die literarischen Zeugnisse des Mittelalters erweist sich aber ein näherer Blick als spannend, denn die existentielle Verflechtung des Menschen mit dem Tier war hier sehr ausgeprägt. Gleichzeitig wird das Mittelalter weithin als naturwissenschaftliches Vakuum begriffen, geprägt durch eine religiöse oder abergläubische Naturdeutung und Weltauffassung, die im Vergleich zu den mathematischen und geographische Schriften der Antike krude wirkt. So schlagen auch viele Wissenschaftsgeschichten wie selbstverständlich einen Bogen über das gesamte Mittelalter hinweg: „Vom Ausgang des klassischen Altertums bis ins 15. Jahrhundert fand naturwissenschaftliches Denken praktisch nicht statt.“ (Huxley 2007, 45) In der Tat war das naturkundliche Wissen durch die antiken Werke geprägt, aber es gab auch eine rege Auseinandersetzung mit den dort enthaltenen Darstellungen, etwa den zoologischen Schriften des Aristoteles (Vgl. Steel et al. 1999). Eigen ist ihr jedoch der hohe Stellenwert der christlichen Ausdeutung: „Im frühen und hohen Mittelalter dominiert das ganz vom typologischen Denken der Theologie geprägte Bild, das auf den Physiologus zurückgeht.“ (Dinzelbacher 2000, 256) In den mittelalterlichen Weltkarten, Bestiarien und Heilkunden finden sich neben den realen Geschöpfen der Welt auch zahlreiche fantastische Kreaturen; medizinische Schriften sind meist eine Mischung aus praktischen Erkenntnissen, Typologie und Rezeption (vgl. Dinzelbacher 2000, 255–292).

In der Dichtung ist der Niederschlag dieser Deutungsmuster eher gering, im Vordergrund stehen Instrumentalisierung und Symbolik: In der Lyrik werden gerne Vögel ins Spiel gebracht, da sie den höfisch repräsentativen Aspekt und erotische Metaphorik gleichzeitig abbilden können, wie etwa in Kürenbergers ich zôch mir einen valken (Kürenberg II,6 [MF, S. 25]) oder Walters Lindenlied (Walther von der Vogelweide, 94ff.). Entsprechend sind Vögel häufig in den dazugehörigen Miniaturen vertreten, sowie die ebenfalls höfisch konnotierten Pferde und Hunde.

In der Epik dominiert zunächst das Pferd. Dies liegt in der Natur der Sache, denn als Literatur einer Gesellschaft, die sich maßgeblich durch die Idee des berittenen Kriegers definiert, sind Pferde alltägliche notwendige Arbeitstiere einerseits und Symbol für Stärke, Beweglichkeit und Herrschaft andererseits. Neben den zahlreichen kurzen topischen Erwähnungen, dass der jeweilige Held auf einem edlen, starken, teuren Pferd unterwegs ist, stechen vor allem zwei Stellen hervor: die vielleicht bekannteste und längste Schilderung eines Pferdes in Hartmanns Erec, in welcher der Erzähler über gut 200 Verse das Ross Enites als in jeder Hinsicht ideal lobt (vgl. Erec, V. 7277-7460), um zum Schluss zu bemerken, dass es eigentlich noch viel mehr zu sagen gäbe, er aber nicht zu lange von Pferden sprechen wolle (vgl. Erec, V. 7450– 7454), sowie die wahrscheinlich als ironisch intertextuelle Antwort lesbare Schilderung von Ades Pferd im Lanzelet, in der der Erzähler im Umkehrschluss die negativen Eigenschaften aufzählt, die das Pferd dieser Dame nicht hat: es beißt nicht, torkelt nicht, hat keinen Herzfehler und keine entzündeten Gelenke (vgl. Lanzelet, V. 1452–1475).

Das Tier erscheint in der Dichtung durch und durch instrumentalisiert, bis auf das Gralspferd Gringuljete im Parzival trägt kaum ein Pferd einen Namen. Dies sollte aber nicht als Geringschätzung im modernen Sinn gelesen werden (es existieren durchaus auch nicht unbedeutende Figuren, die Namenlos bleiben, wogegen im Wigalois sogar der Drache einen Namen trägt). Interessant ist vielmehr, dass in der höfischen Selbstinszenierung, dem artifiziellen Zusammenspiel verschiedenster Akteure, Kreaturen und Zeichensysteme ein sich aus der Tierwelt bekanntes Ordnungsmuster widerspiegelt, über das bereits Konrad Lorenz und später Gilles Deleuze gehandelt haben:

Dabei geht es um die Entdeckung, dass bei Tieren Territorien häufig ein Ausdrucksphänomen sind. Tiere markieren ihre Territorien durch Farben, die sie selbst tragen, oder durch Sound, durch Gesänge und Geräusche. Territorien sind im Konzept der Philosophen keine festgelegten Räume, die besetzt oder unbesetzt sein können, sondern bewegliche Strukturen, die erst durch die Bewegung der Tiere erschaffen werden.  [Riechelmann 2013, 82]

Ebendies führen insbesondere die Artusromane vor: Der hof ist kein Fixpunkt, sondern dort, wo Artus weilt, wo die Melodien erklingen, die Farben gezeigt werden. Feudaladelige Herrschaft ist audiovisuelle Präsenz; arthurische Regeln gelten immer dann und dort, wo ein Artusritter auftaucht. Der einzelne Ritter identifiziert sich durch seine unverwechselbaren Charakteristika mit diesem Prinzip und spielt es während seiner Bewegungen durch die poetische Welt immer wieder durch. Dabei beansprucht er, notfalls mit Gewalt, die Gültigkeit des Systems. Um dies in einem über die Möglichkeiten der menschlichen Physis hinausreichenden Wirkungskreis tun zu können, bedient man sich wiederum des Tieres, das dann seinerseits Träger der zivilisatorischen Symbole wird. Wollte man die Dichtungen des Mittelalters (wie oft praktiziert und kontrovers diskutiert) als Projektionsfolie sehen, mithilfe derer auch moderne Strukturen sichtbar gemacht werden, und dabei noch einmal ein Beispiel wie das eingangs genannte des heutigen wirtschaftlich organisierten Herrschaftssystems heranziehen, ließe sich zeigen, dass dieser Mechanismus auch in der modernen Gesellschaft durchaus nachweisbar ist.

Weitere häufig genannte Tiere sind Hunde, die als Zier- oder Jagdhunde ebenfalls höfisch konnotiert sind, sowie die bereits im Hinblick auf die Lyrik erwähnten Jagdvögel. Auch hier erfüllen diese durch Ihre Kostbarkeit einen herrschaftlich repräsentativen Zweck (so kommt etwa der junge adlige Johfrit auf „einem pferde gemeit“ daher und „ein habich fuotz er ûf der hant“ [Lanzelet, V. 468-470.]), tauchen aber auch in ihrer Symbolik der körperlichen Liebe auf („der minnen vederspil Isôt“ [Tristan, V. 11989.]). Daneben gibt es reichlich Drachen. Wie Riesen oder mit unfairen Mitteln streitende Gegner sind diese instrumentalisiert als unhöfische Gegner, die der Held besiegen muss (vgl. etwa die Drachenkämpfe im Tristan und im Wigalois). Der Löwe erscheint im Lanzelet auch als ein solcher wilder Gegner, der mit roher Gewalt niedergemetzelt wird, im Iwein dagegen als Helfer und Freund des Helden (zur Deutung des Löwen im Iwein vgl. etwa Jaron Lewis 1974, 67–83). Im Herzog Ernst existieren neben diversen Völkern mit phantastischem Körperbau auch Mischwesen zwischen Mensch und Kranich. Diese leben zwar in einer gängigen höfischen Gesellschaftsstruktur, der Versuch des Königs, eine menschliche Braut zu wählen, endet jedoch tragisch, „da als dicke er si kuste, / den snabel stiez er ir in den munt“. (Herzog Ernst, V. 3244f.)

Andere Tiererwähnungen finden sich meist in Form von Essbarem („lewen, bern, rôtwild, / swîn und swaz man jagen will“ [Lanzelet, V. 3992f.]), und, wie im modernen Sprachgebrauch auch, zum Verdeutlichung positiver oder negativer Charaktereigenschaften des Menschen. So erklärt Liddamus im Parzival, sein Gegner könne nicht einmal einem Huhn gefährlich werden, (vgl. Parzival, V. 419,24) und häufig wird auf die Beherztheit des Schweins im Kampf angespielt: ein Ritter ist „küene als ein swîn“ (Lanzelet, V. 3546) oder jagt die unterlegenen Feinde vor „sich her, als ein wildes swîn diu hunt“(Lanzelet, V. 1435). An anderer Stelle fliehen die Gegner vor dem Helden als „cleine vogele vor dem arn“ (Lanzelet, V. 3305). Wie so oft ist auch die Symbolik des Schweins durchaus mehrdeutig, so steht der Eber im Tristan sowohl für die bereits genannte Kraft und Tapferkeit, aber gleichzeitig auch für das offensiv-Sexuelle und die von ihm ausgehende Bedrohung – de facto also für den Protagonisten selbst (vgl. Tristan, V. 13515–13538).

Auch für die äußerliche Erscheinung werden Tiervergleiche herangezogen; so ist die vortreffliche Rüstung „wîz al ein swan“ (Lanzelet, V. 359), während das unattraktive Aussehen Kundrîes folgendermaßen beschrieben wird: sie hat einen Rücken wie ein Maultier, besetzt mit Haaren wie Schweineborsten, eine Nase wie ein Hund, Eberzähne, Ohren wie ein Bär, Hände wie von Affenhaut und Fingernägel, die denen eines Löwen gleichen – der Erzähler merkt an, dass um ihrer Liebe willen keine Zweikämpfe ausgetragen werden (vgl. Parzival, V. 313,16–314,10).

Neben all diesen Möglichkeiten der erzählerischen Nutzung von Tieren existiert aber eben auch noch die eingangs erwähnte und bislang unberücksichtigt gebliebene Variante des Tieres als Maß des physikalischen Verstehens. Der wesentliche Unterschied ist, dass das Tier hierbei eingesetzt wird, um reale und mathematisch nachvollziehbare Größen greifbar zu machen. Eine der gebräuchlichsten Einheiten hierbei ist der Tagesritt – einem damaligen Publikum war die Distanz und die damit verbunden Anstrengung leicht nachvollziehbar, wenn ein Ritt (je nach Tempo und Beschaffenheit des Geländes) einen oder mehrere Tage dauert. Ein weiteres Beispiel findet sich im Parzival, als der junge Protagonist, dem man eingeschärft hat Gewässer zu meiden, deren Grund er nicht sehen kann, sich nicht traut über einen Bach zu reiten „den hete ein han wol überschriten“ (Parzival, V. 129,8). Die Sprungweite des Hahns ist in einer Gesellschaft in der Nutztiere allgegenwärtig sind ein verlässliches und allgemein verständliches Maß für die geringe Breite des Baches. Im Gegensatz zu dem vorher genannten Tagesritt handelt es sich hierbei aber um ein Bild, das durchaus auch anders leicht zu fassen gewesen wäre. Etwas abstrakter, aber dem gleichen Prinzip folgend erscheint die Streckenangabe: Der Held ritt weiter, als ein Vogel (an einem Stück) fliegen kann (vgl. Parzival, V. 224,20).

Einen noch interessanteren Abschnitt enthält der Lanzelet. Die Größe eines Hügels, genannt Wilder Ballen, verringert sich proportional zur Annäherung des Betrachters: Aus einer Meile Entfernung glaubt man, ein aus Erz gegossenes Pferd zu sehen, reitet man näher heran ergibt sich aus einer halben Meile das Bild eines kleinen Maultieres, bei weiterer Annäherung erscheint der Hügel als ein Hund, dann in der Größe eines Fuchses und schließlich als eine kleine bauchige Vase, die aber so schwer ist, dass niemand sie aufheben kann. Dieses Konstrukt ist bemerkenswert und spielt mit physikalischen Gesetzen und der menschlichen Wahrnehmung – und dies in einer Zeit, in der sich die bildende Kunst mit der Darstellung solcher Perspektiven noch kaum beschäftigt (vgl. Panofsky 1974, 99f.). Dem Publikum vorgetragen eröffnet diese Bildsequenz ein faszinierendes und unglaubliches Gedankenspiel, und um diesen Effekt überhaupt imaginierbar zu machen, bedarf es allgemein bekannter Größen, die der Rezipient in einer fließenden Betrachtung, gleich einer Kamerafahrt, leicht aufrufen kann. Dies wiederum gelingt durch die Orientierung an den Rezipienten vertrauten Größen: den Körpern von Pferd, Maultier, Hund und Fuchs. Im Falle des Wilden Ballens werden diese nicht nur als Vergleichsgrößen herangezogen, sondern untereinander und mit der Blickführung und Bewegung im poetischen Raum dynamisch in Beziehung gesetzt, so dass ein optisches Trugspiel entsteht, das der Erzähler dann durch die Existenz des Balles, bei dem sich wiederum die Masse umgekehrt proportional zur Größe verhält, in ein zusätzliches physikalisches Wunder verwandelt.

Bezüge zu Tieren sind nicht nur eine erzählerische Gestaltungsmöglichkeit, um Charaktereigenschaft hervorzuheben, Superlative zu generieren und Figuren und Figurenräume lebendig und anschaulich werden zu lassen. Sie erweisen sich auch als diachron äußert stabile Konstrukte, deren Dechiffrierbarkeit bis heute ungebrochen ist, obwohl der direkte Bezug der allermeisten Menschen zu den Geschöpfen verschwunden oder auf ein Minimum des ursprünglichen reduziert worden ist. Es wird daher spannend zu beobachten sein, ob sich auch sprachlich die Ablösung der natürlich gegebenen Mensch-Tier Beziehung durch die selbstinitiierte Mensch-Technik Beziehung irgendwann etablieren wird.

Literatur

Primärtexte

Gottfried von Straßburg: Tristan. Hg. von Karl Marold. Unveränderter 4. Abdruck nach dem 3. mit einem auf Grund von F. Rankes Kollationen verbesserten Apparat besorgt von Werner Schröder. Berlin/New York 1977.

Hartmann von Aue: Erec. Hg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt a.M. 2007 (= Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 20).

Herzog Ernst. Ein Mittelalterliches Abenteuerbuch, in der mittelhochdeutschen Fassung B nach der Ausgabe von Karl Bartsch mit den Bruchstücken der Fassung A herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Bernhard Sowinski. Stuttgart 2003 (= RUB 8352).

Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann et al. bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Band 1. Stuttgart 1988.

Der Physiologus. Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel. Zürich 1995.

Deutsche Lyrik des Mittelalters. Auswahl und Übesetzung von Max Wehrli. Zürich 2001.

Riechelmann, Cord: Krähen. Ein Portrait. Berlin 2013 (= Naturkunden 1).

Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Hg. von Wolfgang Spiewok, mittelhochdeutsch/ neuhochdeutsch. Greifswald 1997 (= Wodan 71).

Wigalois Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J.M.N. Kapteyn, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005.

Wolfram von Eschenbach: Parzival, Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung und Sachwort von Wolfgang Spiewok. 2 Bände. Stuttgart 2010 (= RUB 3681/3682).

Sekundärliteratur

Dinzelbacher, Peter (Hg.): Mensch und Tier in der Geschichte Europas. Stuttgart 2000 (= Kröners Taschenausgabe 342).

Huxley, Robert (Hg.): Die großen Naturforscher. Von Aristoteles bis Darwin, aus dem Englischen übersetzt von Frank Auerbach. München 2007.

Ingold, Tim (Hg.): What is an animal? London 1988.

Jaron Lewis, Gertrud: Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival und Tristan. Frankfurt a.M. 1974 (= Kanadische Studien zur dt. Sprache und Literatur 11).

Obermaier, Sabine (Hg.): Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Berlin 2009.

Panofsky, Erwin: Die Perspektive als „symbolische Form“. In: Erwin Panofsky. Aufsätze zu den Grundfragen der Kunstwissenschaft. Zusammengestellt und hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin 1974.

Carlos Steel, Guy Guldentops, Pieter Beullens (Hg.): Aristotle’s Animals in the Middle Ages and Renaissance. Leuven 1999 (= Mediaevalia Lovaniensia I/XXVII).

Tiere als Freunde im Mittelalter. Eine Anthologie. Eingeleitet, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Gabriela Kompatscher, Albrecht Classen und Peter Dinzelbacher, Badenweiler 2010.

„Schräge Vögel“

Tiere in der Sprache und im Wörterbuch

von Rolf Bergmann

1. Einleitung

 „Schräge Vögel“ in einem Traum von Universität:

Die erträumte Universität würde also weniger als Organisation belangvoll sein, denn als eine Lebensform, die man sich für einige Jahre oder immer wieder oder, in einigen Fällen, auf Dauer zu eigen machte. Alles Organisatorische, die Finanzen und die Studienordnungen, die Gremien und die Evaluationen wären bloß, was sie tatsächlich sind: Mittel zum Zweck freier, kreativer wissenschaftlicher Arbeit von Lehrenden und Studierenden. Eine solche Universität würde Stars ebenso gut aushalten können wie schräge Vögel, sie würde Zeit geben, ja auch Muße zulassen, und sie würde vom Irrtum als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis wissen. Wirklich gereizt aber würde eine solche Universität reagieren auf Denkfaulheit und Reflexionsverweigerung, auf Gelangweiltheit und Opportunismus. Und sie wäre wohl nicht seit Generationen strukturell unterfinanziert.

So formulierte der Münchner Germanist Peter Strohschneider, Vorsitzender des Wissenschaftsrats, im Jahre 2008 seinen Traum von Universität (ZEIT Campus online, 18.01.2008, S. 3).

„Stars“ und „schräge Vögel“ sieht Strohschneider offensichtlich nicht als Regelfall, aber doch als Ausnahmemöglichkeiten, die unter den Lehrenden und den Studierenden vorkommen können und die eine Universität auch sollte aushalten können. Was immer Peter Strohschneider mit „schräge[n] Vögel[n]“ in der Universität gemeint haben könnte – ich möchte davon ausgehen, dass Hans-Peter Ecker sich für schräge Vögel innerhalb und außerhalb der Universität und deshalb auch für den Ausdruck schräge Vögel interessiert und hoffe daher, dass ihm der folgende sprachwissenschaftliche Beitrag zu seinem ‘tierischen’ Festblog willkommen ist. Mir ist bewusst, dass der hier gewählte Einstieg ins wissenschaftlich gemeinte Thema dem Ganzen auch einen Sitz im universitären Leben gibt und beim Leser der folgenden Ausführungen Assoziationen zu lebenden Personen also nicht ganz ausgeschlossen werden können.

Schräge Vögel im Wörterbuch:

Laut DUW bezeichnet das Wort Vogel ein “zweibeiniges Wirbeltier mit einem Schnabel, zwei Flügeln und einem mit Federn bedeckten Körper, das im Allgemeinen fliegen kann” und schräg “von einer [gedachten] senkrechten od. waagerechten Linie in einem spitzen od. stumpfen Winkel abweichend”. Beide Bedeutungen liegen in der Verbindung schräge Vögel offensichtlich nicht vor, vielmehr ist hier die im DUW jeweils an zweiter Stelle genannte Bedeutung realisiert: Bei Vogel “(salopp, oft scherzh.): durch seine Art auffallender Mensch: ein lustiger, lockerer, komischer, seltsamer, schräger, linker V[ogel)” und bei schräg “von der Norm, vom Üblichen, Erwarteten abweichend [u. daher nicht akzeptiert]: er ist ein ganz schräger Vogel.” Diese Bedeutungen sind an ganz bestimmte Kollokationen gebunden. Nur in Verbindung mit Adjektiven wie seltsam, komisch usw. bezeichnet Vogel Menschen, und nur in Verbindung mit Personenbezeichnungen wie Vogel, Typ hat schräg die Bedeutung ‘von der Norm abweichend’.

Als Bezeichnungen für Menschen begegnen noch weitere Tierbezeichnungen mit Attributen oder ohne; so spricht man von tollen Hechten, lahmen Enten, alten Hasen, schwarzen Schafen, süßen Bienen, flotten Käfern, schlauen Füchsen, albernen Hühnern, harten Hunden und so weiter oder es werden Menschen als Affe, Esel, Gans, Schwein oder Ochse bezeichnet.

Im Folgenden soll mit Hilfe von Wörterbuchbefunden den semantischen und pragmatischen Aspekten dieser Verwendungen von Tierbezeichnungen etwas nachgegangen werden. Dem Anlass und dem Medium dieser Ausführungen entsprechend wird keine systematische Vollständigkeit angestrebt; es soll vielmehr darum gehen, vertraute Phänomene des sprachlichen Umgangs mit den Bezeichnungen von Tieren breiter zu veranschaulichen, sprachwissenschaftlich einzuordnen und so weit möglich auch unter sprachhistorischem Aspekt zu erläutern.

2. Tierbezeichnungen und ihre Bedeutung

Wenn hier konsequent von Tierbezeichnungen gesprochen wird, wird damit die alltagsprachliche Verwendung des Ausdrucks Tiername für Wörter wie Hecht, Hase ganz bewusst vermieden. Tiernamen haben wie alle Eigennamen Monoreferenz und Direktreferenz (Nübling 2012, 17 f.). Das heißt, der Hundename Diva bezeichnet ein individuelles Tier (Monoreferenz), und er bezeichnet es ohne den Weg über eine lexikalische Bedeutung (Direktreferenz). Die Beziehung zwischen dem Eigennamen und dem damit bezeichneten Denotat muss erlernt und gewusst werden. Beschreiben kann man diese Beziehung nur im Rückgriff auf andere definite Einheiten, so etwa in der Form, dass von dem als Hund der Familie B identifizierten Tier gesagt wird, es heiße Diva.

Wörter wie Hecht, Hase sind nicht Namen für Individuen, sondern Bezeichnungen für Arten oder Familien von Tieren; Wörter wie Vögel oder Fische bezeichnen Klassen oder Gruppen von Tieren. Die Wörterbuchangaben zu derartigen Wörtern zeigen eine große Übereinstimmung mit Angaben in Enzyklopädien (Übereinstimmungen vom Autor durch Fettsatz hervorgehoben):

DUW: Vogel “zweibeiniges Wirbeltier mit einem Schnabel, zwei Flügeln und einem mit Federn bedeckten Körper, das im Allgemeinen fliegen kann”.

Wikipedia: “Die Vögel sind traditionell eine Klasse der Wirbeltiere, deren Vertreter als gemeinsame Merkmale unter anderem Flügel, eine aus Federn bestehende Körperbedeckung und einen Schnabel aufweisen”.

DUW: Fisch “im Wasser lebendes, durch Kiemen atmendes Wirbeltier mit einem von Schuppen bedeckten Körper u. Flossen, mit deren Hilfe es sich fortbewegt”.

Wikipedia: “Fische (Pisces) (von lateinisch piscis „Fisch“) sind aquatisch lebende Wirbeltiere, die mit Kiemen atmen. In der zoologischen Systematik bilden die Fische keine natürliche Einheit (Monophylon), sie sind also keine Verwandtschaftsgruppe, sondern eine Gruppe von morphologisch ähnlichen Tieren.

Die Wörterbuchangaben sind Beschreibungen der mit dem betreffenden Wort bezeichneten Tiere, sie erklären also, für welche Lebewesen diese Wörter als Bezeichnungen verwendet werden. Dass hier eine besondere Art von Wörtern vorliegt, zeigt sich daran, dass bei ihnen keine Bedeutungsangaben durch Synonyme möglich sind, wie etwa bei Angaben vom Typ Hast ‘große, überstürzte Eile’, Haupt ‘Kopf’ usw. Tierbezeichnungen sind daher auf dieser ersten Verwendungsebene semantisch unspektakulär, weil sie in dieser benennenden Funktion tatsächlich den Eigennamen ähneln.

3. Metonymien, Vergleiche, Metaphern

Semantisch interessanter werden die Tierbezeichnungen beispielsweise durch Metonymie, die dann naheliegt, wenn ein Teil des Tiers für den Menschen besondere Bedeutung gewinnt, etwa sein Fell. So bucht das DUW unter Fuchs als Bedeutung 2. a) Fell des Fuchses: ein Kragen aus F.; b) aus dem Fell des Fuchses gearbeiteter Pelz: sie trägt einen F. Ein Teil (Fell) wird mit dem Wort für das ganze Tier (Fuchs) bezeichnet (Fall 2. a); ein Produkt (Pelz) wird mit dem Wort für das Material (Fuchs als Bezeichnung des Fells) bezeichnet.

Mit wie eingeleitete Vergleiche werden ebenfalls als Besonderheiten der Verwendung von Tierbezeichnungen im Wörterbuch registriert, wenn sie eine gewisse Frequenz erreichen und so etwas wie stereotype Zuweisungen formulieren wie beispielsweise aufpassen wie ein Luchs, hungrig sein wie ein Bär, schlafen wie ein Dachs, glatt wie ein Aal sein, dastehen wie der Ochse vorm Scheunentor (alle in DUW). Hier wird auf dem Tier zugeschriebene Eigenschaften und Verhaltensweisen Bezug genommen.

Mit der direkten Bezeichnung von Menschen mit Tierbezeichnungen ist die Ebene der Metapher erreicht. Aus Er ist (dumm) wie ein Ochse wird Er ist ein Ochse. Im Wörterbuch steht dann eine synonymische Bedeutungsangabe wie bei Ochse ‘Dummkopf, dummer Mensch’, bei Gans ‘unerfahrene, junge weibliche Person’, bei Fuchs ‘durch seine Schläue u. Gewitztheit andern überlegener Mensch’(alle in DUW). Auch für die Metaphorik spielen natürlich die zugeschriebenen Eigenschaften der Tiere die entscheidende Rolle. Eine breite Materialsammlung von 1347 Positionen zur Tiermetaphorik in der deutschen Gegenwartssprache bietet der Anhang 2 bei Shelley Ching-yu Hsieh (2001, 307-342).

4. Tierbezeichnungen als Schimpfwort und als Kosewort

Die Tiermetapher kann schließlich besondere pragmatische Merkmale gewinnen, so in der Verwendung als Schimpfwort, was bei einer gewissen Gebräuchlichkeit in den Wörterbuchartikeln auch mit diesem Terminus angegeben wird, so etwa in DUW bei Affe, Ochse, Schaf, Schwein, während bei Esel ‘Dummkopf, Tölpel, Tor’ und Hund (abwertend) ‘gemeiner Mann, Lump, Schurke’ der Begriff Schimpfwort trotz gleicher Gebrauchsbedingungen nicht verwendet wird, was aber nur an einer gewissen Uneinheitlichkeit des Wörterbuchs liegt. Die Quelle der Metaphorik ist manchmal, aber nicht immer im wie-Vergleich erkennbar: Dumm wie ein OchseDu dummer Ochse!, Du Ochse!

Eine pragmatische Besonderheit liegt auch in der Verwendung von Tierbezeichnungen als Kosewörter in der Paarbeziehung und in der Eltern-Kind-Beziehung vor. Solche Verwendungen gelangen nur in seltenen Fällen ins Wörterbuch. DUW bringt immerhin unter Maus die explizite Angabe Kosewort mit der typischen Verwendung du süße Maus! , unter Hase und Spatz “Kosewort, bes. für Kinder”, während bei Bär, für das eine solche Verwendung ebenfalls bekannt ist, eine Angabe im Wörterbuch fehlt. Die Motivation der Wahl der einzelnen Tierbezeichnungen hängt beispielsweise mit der relativen Größe der Tiere zusammen, die uns Mäuse, Hasen, Spatzen als klein und niedlich wahrnehmen lässt; und bei Bär als Kosewort mag offensichtlich eher die Reproduktion als Teddybär als das gefährliche Raubtier selbst die Motivation liefern.

5. Metaphorische Syntagmen

Der Ausdruck schräger Vogel gehört zu den adjektivisch attribuierten Tierbezeichnungen. Hier gibt es zunächst solche, bei denen das Adjektiv auch auf der wörtlichen Ebene als Attribut zur Bezeichnung des Tiers verstanden werden kann. So gibt es natürlich in der Realität alte Hasen und lahme Enten. Die Metapher entstand mit der Übertragung des ganzen Syntagmas auf Menschen. DUW erklärt: “Der ältere Hase hat Erfahrung darin, dem Jäger zu entkommen, …” und beschreibt die Bedeutung des übertragenen Ausdrucks so: ein alter Hase “jmd., der sehr viel Erfahrung [in einer bestimmten Sache] hat”; und bei lahme Ente heißt es: “1. schwunglose, schwerfällige Person. 2. langsames Fahrzeug mit schwachem Motor”.

Für ein Syntagma wie schräger Vogel scheidet eine wörtliche Lesart aus, da es keine Vögel gibt, denen schräg als Attribut zugesprochen werden könnte. Dasselbe gilt wohl auch von Verbindungen wie linker, lockerer, komischer Vogel, während bei lustiger, seltsamer Vogel eine wörtliche Lesart denkbar ist. Die Grenze zwischen diesen Typen kann nicht scharf gezogen werden. Für schräger Vogel kann der Übertragungsweg jedenfalls nur vom Wort Vogel ausgehen, das als Bezeichnung für Menschen verwendet wird, dabei aber stets entsprechende charakterisierende oder evaluierende Adjektivattribute mit sich führt.

6. Zur Geschichte der Vogel-Metapher

Der Gebrauch von Vogel als Menschenbezeichnung wird im Grimmschen Wörterbuch seit um 1500 belegt, wobei eine Fülle von Adjektiven vorkommt:

13) sehr oft wird vogel auf einen menschen bezogen, gewöhnlich mit attribut oder in zusammensetzung; die meinung neigt sich dabei gern nach der ungünstigen seite, doch kann auch fröhlichkeit, geistige beweglichkeit bezeichnet werden. [DWB XII, II, 398-400]

An Adjektiven werden hier belegt:

arg, böse, durchtrieben, ehrlich, ehrvergessen, fein, frech, gerupft, gut, ketzerisch, leicht, leichtfertig, leichtsinnig, locker, lose, luftig, lustig, nass, nichtswürdig, öde, rar, redlich, schlau, schlimm, schön, selten, seltsam, unnütz, undankbar, verschmitzt, wüst.

Die in dem Lexem Vogel angelegte Bildlichkeit wird dabei gelegentlich im Text komplex ausgestaltet, wofür der im DWB bei luftig angeführte Eichendorff-Beleg ein Beispiel bietet:

‘kennen denn ew. hochwürden den bräutigam?’ fragte ich ganz verwirrt. – ‘nein’, erwiderte der alte Herr, ‘aber er soll ein luftiger vogel sein’. – ‘o ja’, sagte ich hastig, ‘ein vogel, der aus jedem käfig ausreiszt, sobald er nur kann, und lustig singt, wenn er wieder in der freiheit ist.’ Eichendorff w. (1964) 3,91 [(DWB XII, II, 399 f.)]

7. Zur Geschichte von schräg

In dem im Jahre 1899 erschienenen Artikel schräg des Grimmschen Wörterbuchs (DWB IX, 1618-1620) finden sich überhaupt keine Belege für eine Attribuierung zu Personenbezeichnungen. Im Artikel Vogel wird unter den Adjektivattributen zu Vogel schräg nicht nachgewiesen; das bedeutet nicht zwingend, dass es im Belegarchiv nicht belegt war, lässt aber vermuten, dass es sich so verhielt. Das beträfe dann den Zeitpunkt 1926, in dem die Lieferung 3 mit dem Artikel Vogel des erst 1951 fertiggestellten Bandes XII, II bereits erschienen ist.

Zur weiteren Wortgeschichte von schräg im 20. Jahrhunderts führt das ‘Deutsche Wörterbuch’ von Hermann Paul (10. Auflage von Helmut Henne, Heidrun Kämper und Georg Objartel, Tübingen 2002, S. 875) unter Verweis auf Heinz Küpper, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (6 Bände, Hamburg 1963-1970) Folgendes aus:

seit dem früheren 20. Jh. auf Töne bezogen, schräg klingen, schräge Musik ‘Jazzmusik’ wohl nach 1933 (vgl. Kü), daran anschließend verallgemeinert auch ‘von der Norm abweichend, ungewohnt’ bzw. i. S. v. ‘suspekt’ “spätestens seit 1925/30″ (ebd.): schräge Firmen (WdG), [als Phraseologismus gekennzeichnet:] schräger Vogel wenn jmd. kein Vertrauen einflößt (nach 1945; Kü)

Auch das von 1961 bis 1977 bearbeitete ‘Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache’ (= WDG) kennt die Verwendung eine s[schräge] (wilde, heiße) Jazzmusik

Ein Frühbeleg für schräger Vogel lässt sich mit den vorhandenen lexikographischen Hilfsmitteln, die für das 20. Jahrhundert unbefriedigend sind, nicht ermitteln. Es fällt aber auf, dass mit Bezug auf H. Küpper für die Zeit nach 1945 zunächst eine negative Wertung bei schräger Vogel vermerkt wird; diese findet sich auch noch im Band Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Bearbeitet von Günther Drosdowski und Werner Scholze-Stubenrecht (Der Duden in 12 Bänden, Band 11, Mannheim u. a. 1992, S. 636): ein schräger Vogel ‘ein zwielichtiger Mensch’ (mit einem Beleg von 1975).

Für den heutigen, nicht einseitig negativ konnotierten Gebrauch des Ausdrucks bietet das Wortprofil des DWDS von 1966 bis 2010 487 Belege, die Kookkurrenzdatenbank von Cyril Belica (CCDB – V3.3) des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim über 500.

8. Das semantische Spektrum von schräg

Für die Breite der Verwendungsweise und die auch in der Wertung schillernde Konnotation von schräg sind seine Nennungen in Synonymengruppen auf der zum Lemma schräg gehörigen Openthesaurus-Webseite (Version: 2013-07-16) des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (=DWDS) aufschlussreich:

1. aberwitzig, abgedreht (umgangssprachlich), absurd, befremdend, befremdlich, bizarr, eigenartig, eigentümlich, eigenwillig, fällt aus dem Rahmen (umgangssprachlich), grotesk, komisch, kurios, lächerlich, merkwürdig, schräg, skurril, sonderbar, ungewöhnlich, verquer

2. abgedreht (umgangssprachlich), abgespaced (umgangssprachlich), ausgeflippt (umgangssprachlich), crazy (umgangssprachlich), (das) darf (einfach) nicht wahr sein (umgangssprachlich), (ziemlich) durchgedreht (umgangssprachlich), durchgeknallt (umgangssprachlich), irre (umgangssprachlich), (das) kann nicht wahr sein (umgangssprachlich), leicht verrückt, narrisch (umgangssprachlich bayrisch), nasch (umgangssprachlich bayrisch), nicht zu fassen (umgangssprachlich), schräg (umgangssprachlich), spinnert (umgangssprachlich), überdreht, übergeschnappt (umgangssprachlich), unfassbar, unfasslich, unglaublich, verdreht (umgangssprachlich), verrückt, wahnsinnig, wie Rumpelstilzchen (umgangssprachlich), wildgeworden

3. abgedreht (umgangssprachlich), absonderlich, eigenartig, kauzig, merkwürdig, schräg, schrullenhaft, schrullig, skurril, sonderbar, speziell, spinnert, spleenig, überspannt, ungewöhnlich, verschroben, wunderlich

4. abgeschrägt, schräg

5. atypisch, aus der Reihe fallend, ausgefallen, außergewöhnlich, formidabel, kurios, schräg (umgangssprachlich), speziell, uncharakteristisch, ungewöhnlich, unnormal, untypisch

6. diagonal, quer, schief, schräg

7. quer, schepp (umgangssprachlich), schief, schräg

Die Bedeutungsangabe des DUW “von der Norm, vom Üblichen, Erwarteten abweichend [u. daher nicht akzeptiert]” erweist sich im Hinblick auf diese Synonymengruppen als zutreffend.

9. Zur Geschichte des Ausdrucks seltener Vogel

Für die Verbindung ein seltener Vogel geben die Wörterbücher die Bedeutung ‘ein seltsamer, sonderbarer Mensch’ (DUW) und stellen diese Kollokation in eine Reihe mit ein lustiger, lockerer, komischer, seltsamer, schräger, linker, Vogel. Das Adjektiv selten hat in dieser Verwendung nicht die Bedeutung ‘nicht oft, nicht häufig vorkommend’. Insofern ist der an sich zutreffende Hinweis “nach lat. rara avis” (DUW) etwas irreführend, denn rara avis meinte im Lateinischen (etwa bei Juvenal) tatsächlich einen seltenen, so gut wie nie vorkommenden Vogel wie einen weißen Raben oder einen schwarzen Schwan. In diesem Sinne konnte dann ein Mensch mit einer für sehr selten gehaltenen Eigenschaft ein rarer oder seltener Vogel genannt werden, was als Lehnübersetzung ins Deutsche übernommen wurde, wobei im Frühneuhochdeutschen und älteren Neuhochdeutschen statt selten die Form seltsam in der Bedeutung ‘selten’ verwendet wurde. In Wikipedia (eingesehen am 2.6.2013) wird dazu weiter ausgeführt:

Martin Luther gebraucht die entsprechende Metapher im Deutschen 1523 in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“: „Und solt wissen, das von anbegyn der wellt gar eyn seltzam vogel ist umb eyn klugen fursten […]“ (und du sollst wissen, dass seit Anbeginn der Welt ein kluger Fürst ein seltener Vogel ist). Eine Passage der „Colloquia familiaria“ des Erasmus von Rotterdam Sic olim rara avis erat abbas indoctus, nunc nihil est vulgatius übersetzt Justus Alberti 1545: „Also war auch vorzeyten ein ungelerter abt ein seltzam vogel. Nu aber ist nichts gemeiner und gewonlicher“. Wie bei Luther bedeutet „seltzam vogel“ auch hier „seltener Vogel“.

Ein seltener Vogel ist in dieser Verwendung also eine nicht oft vorkommende Art von Mensch. Der Weg zum heutigen Gebrauch wird im Grimmschen Wörterbuch unter selten (DWB X, I, 544 f.) nachgezeichnet: “mit hervorhebung des begriffs der eigenartigkeit, der sich naturgemäsz mit dem der unhäufigkeit, ungewöhnlichkeit verknüpft.” Die semantische Nähe zu seltsam kommt in einem Doppelbeleg bei Goethe zum Ausdruck: “die dame …erzählte manches vortheilhafte von diesem seltenen und seltsamen manne” Göthe 28, 246 (zitiert nach DWB X, I, 544), während Kant deutlich zwischen beiden differenziert: “vorliebe fürs paradoxe ist zwar logischer eigensinn, nicht nachahmer von anderen sein zu wollen, sondern als seltener mensch zu erscheinen, statt dessen ein solcher oft nur den seltsamen macht” Kant 10, 124 (zitiert nach DWB X, I, 544 f.)

10. Ausblick

Die Verwendung von Tierbezeichnungen als Menschenbezeichnungen innerhalb und außerhalb der Universität darf als ein weites Feld innerhalb der sprachlichen Kommunikation bezeichnet werden, von dem hier nur ein schmaler Ausschnitt betrachtet wurde. Gedruckte und digitale lexikographische Hilfsmittel können nur ein erstes Bild davon vermitteln, sind aber dennoch für die Ergänzung der begrenzten individuellen Kompetenz wichtig und geben auch erste historische Informationen. Die Beziehungen dieses sprachlichen Feldes zu gegenwärtigen und historischen Wirklichkeiten und allen mit ihrer Erforschung befassten Disziplinen sind vielfältig – wie immer, wenn es um die semantische und pragmatische Seite der Sprache geht.

Über die Sprachwissenschaft hinaus führen schließlich Links zu Bildern von seltenen Vögeln, rare vogels, weird creatures (vgl. etwa hier und hier), die andeuten können, ein wie weites Feld hier letztlich eröffnet ist.

Literatur, Wörterbücher, Digitale Hilfsmittel

Belica, Cyril: Kookkurrenzdatenbank CCDB – V3.3 des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Eine korpuslinguistische Denk- und Experimentierplattform. 2001 ff., http://corpora.ids-mannheim.de/.

Der Duden in 12 Bänden. Hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Band 11: Duden. Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Bearb. von Günther Drosdowski u. Werner Scholze-Stubenrecht. Mannheim u. a. 1992.

Duden. Deutsches Universalwörterbuch, 4., neu bearb. u. erw. Aufl. Mannheim 2001 [DUW].

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bde.  IX; X, I; XII, II. Leipzig 1899/1905/1951 [DWB].

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, http://www.dwds.de/ [DWDS].

Hsieh, Shelley Ching-yu: Tiermetaphern im modernen Chinesischen und Deutschen: Eine vergleichende semantische und soziolinguistische Studie. 2001, http://tobias-lib.uni-tuebingen.de/volltexte/2001/209/.

Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. 6 Bde. Hamburg 1963-1970.

Nübling, Damaris u. a.: Namen. Eine Einführung in die Onomastik. Tübingen 2012 (= Narr Studienbücher).

Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 10. Aufl. von Helmut Henne, Heidrun Kämper u. Georg Objartel. Tübingen 2002.

Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, 1961-1977, integriert in DWDS, http://www.dwds.de/panel/wdg_panel/ [WDG].

Mosquito ergo summ

Von Menschen, Mücken und Mal Aria

Von Anja Hassel

Mit Mal Aria hat die 1974 geborene Autorin Carmen Stephan 2012 einen Debütroman vorgelegt, der wie kaum ein anderer zum Nachdenken über das eigene Sein und das Verhältnis Mensch-Tier-Natur anregt. Der Klappentext resümiert: „Eine Geschichte über Leben und Tod. Erzählt von einem Moskito“. Damit befindet sich Mal Aria in bester Gesellschaft, werden Romane auch abseits der Kinder- und Jugendliteratur seit einiger Zeit auffallend oft aus der Sicht von Tieren erzählt: Andrew O’Hagan lässt Schoßhund Maf vom Leben seines Frauchens Marilyn Monroe berichten, Leonie Swanns Schafherde begibt sich in Garou bereits zum zweiten Mal auf Spuren- und Tätersuche, bei Karin Bergrath kommt der Tod auf leisen Gänseflügeln, in Rebecca Hunts Mr. Chartwell philosophiert ein streunender Straßenhund über die depressive Verstimmung Winston Churchills. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Und doch sticht (man möge mir dieses plumpe Wortspiel verzeihen) Stephans zunächst aufgrund der gewählten Erzählperspektive etwas spleenig anmutende Moskito-Moritat vom hinterlistigen Mord an einer wehr- und ahnungslosen jungen Frau an den Ufern des Amazonas hervor – nicht zuletzt dank der Aktualität der Thematik auch in den heimischen Gefilden.

Denn während ganz Deutschland angesichts der Sommerhitze stöhnt, rüsten sich die Bewohner der von der Flutkatastrophe 2013 betroffenen Gebiete für den Endkampf: Die durch das Hochwasser entstandenen Tümpel und Pfützen sorgen für jede Menge Feuchtgebiete, die in Kombination mit hochsommerlichen Temperaturen ideale Voraussetzungen für die massenhafte Vermehrung blutdurstiger Insekten bieten.

Fortuna lächelt, doch sie mag
nur ungern voll beglücken.
Schenkt sie uns einen Sonnentag,
so schenkt sie uns auch Mücken.
(Wilhelm Busch)

Als wäre diese leidige Begleiterscheinung des Hochsommers  für all die Acarophobiker[1] unter uns nicht schon schlimm genug, droht obendrein eine ‚Überflutungsmücken‘-Plage: wie aus dem Winterschlaf erwacht, schlüpft nun auch noch die im Vergleich zu Artgenossen besonders aggressive Brut aus Eiern, die bereits vor Monaten oder sogar Jahren in zwischenzeitlich getrockneten, im Juni unglücklicherweise aber erneut überschwemmten, Gebieten abgelegt wurden. Und so werden allerorts Freisitze und Gärten zu Arenen eines blutigen Kampfes zwischen Mensch und Flügeltier, es peitschen die Fliegenklatschen und surren die UV-Mückenfallen.  Kaum einer, der sich vom unfreiwilligen Aderlass nicht belästigt fühlt. In diesem ungleichen[2] Duell trifft den kleinen Zweiflügler die geballte Härte menschlicher Kultur, die mit zivilisatorischer Abwehr gegen all das vorgeht, was ihre Ordnung empfindlich stört. Die Grenzziehung zwischen Natur und Mensch wird als Kampf mit Tieren und gegen sie vollzogen. Dabei sind tropische Moskitos wie die Anopheles-Mücke in Mal Aria, ähnlich den Ratten und sonstigem Ungeziefer, Repräsentanten des Todes, die gewaltsam verdrängt werden und doch stets wiederkehren. Der flächendeckende Gifteinsatz gegen Mücken ist nicht nur Hygiene- und Vorsichtsmaßnahme, sondern zeigt auch das, „was sich in der Psyche des Einzelnen ereignet: der Kampf mit unbewältigten Fragen nach dem Tod, der sich mit dem Körper des Tieres verschränkt und an ihm symbolisch wiederholen kann“ (Thermann 2010, 163 f.). In einem Brief an Thomas Mann vom 18. Januar 1954 schreibt Adorno: „Die bürgerliche Zivilisation hat das ‚Fiese‘ des Todes verdrängt und entweder veredelt oder mit Hygiene eingefangen“ (Adorno 2002, 134).

Ein gewagtes Romanexperiment also, in Zeiten eines weitverbreiteten, kollektiven ‚Anti-Summitismus‘ einem Vertreter dieser ungeliebten Spezies der artenreichsten Klasse der Tiere eine Stimme zu geben – wer will schon wissen, was einer Stechmücke durch den Kopf geht, wenn sie sich an uns labt? Noch dazu, wenn es sich dabei um die Überträgerin[3] einer Krankheit handelt, die auch in Kontinentaleuropa jahrhundertelang wütete und von der sich schon Schiller nie ganz erholen konnte. Noch bis Anfang des letzten Jahrhunderts grassierte die Malaria in Deutschland und forderte vor allem im Rheintal viele Todesopfer. Spätestens seit Mitte der 1950er Jahre galt die Tropenkrankheit dann aber hierzulande offiziell als ausgerottet.

Gleich zu Beginn wird der Leser mit  wenig mitleidvollen Aussagen eines hinterlistigen, im Dunkel der Nacht auf ahnungslose Opfer lauernden Raubtieres konfrontiert: „Schlaft ein. Werdet wehrlos. Ich bin da“.  Vom in der ursprünglichen Schöpfung formulierten Urteil „Und siehe da, es war sehr gut“ (1. Mose 1,31) ist nichts geblieben – von wegen, es gebe keine schädlichen Insekten und keine gefährlichen Tiere! Allem Kalkül zum Trotz handelt es sich bei diesem Tier-Subjekt jedoch nicht um eine reuelose Kreatur: „Wie konnte ich den Tod bringen, ohne es zu wollen?“ (MA 22). Die Antwort ist schnell gefunden: „Ich kenne kein Warum. Es gibt kein Warum“ (MA 180). Die todbringende Stechmücke ist ein kleines Rädchen im Getriebe der Natur, Teil eines Zyklus, aus dem sie nicht auszubrechen vermag: „Die Geißeln zwingen uns, zu Mördern zu werden“ (MA 50). Das Opfer, die 24-jährige Architekturstudentin Carmen, ist Sinnbild für den von der Natur zunehmend entfremdeten Menschen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts: „Die Natur war für sie etwas, das man ansehen und anfassen konnte, von dem man aber letztendlich getrennt blieb“ (MA 24). Am 13. Tag erliegt sie schließlich dem nicht-diagnostizierten Wechselfieber. Zwei Wochen Leidensgeschichte, in denen die Mücke nicht von ihrer Seite weicht und den rapide fortschreitenden Verfall protokolliert. Doch es bleibt nicht bei der beobachtenden Außenperspektive. Stattdessen werden das Insekt und die Infizierte eins, sind fortan „Blutsschwestern“ (MA 13). Die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen zunehmend: „Sie wusste nicht, dass ich in ihren Gedanken treiben konnte, wie ihr Blut in mir. Ich konnte sehen, was sie sah. Denken, was sie dachte. Fühlen, was sie fühlte“ (MA 22). Die Übergänge von Mensch zu Zweiflügler – oder umgekehrt – in der Gedankenwelt erfolgen blitzschnell; mal schwadroniert der Moskito historisch überaus bewandert über die von Missverständnissen und Ignoranz geprägte Krankheitsgeschichte, mal klagt er den Menschen als eigentlichen Eindringling in die natürliche Ordnung an, dann wieder unterbrechen Erinnerungen an Carmens Kindheit den Erzählfluss. Und so wird auch die Mücke langsam eine andere, empfindet plötzlich Mitleid und will wiedergutmachen, was sich nicht mehr aufhalten lässt. Der Name ihres Opfers ist dabei nicht nur bloße biografische Spielerei[4] oder zufällig gewählt: so wie Don José in Georges Bizets wohl bekanntester Oper seine Geliebte unter Tränen niedersticht, fliegt auch der Moskito nach der Blutmahlzeit fortan schuldbehaftet und schweren Herzens („Wisst ihr überhaupt, dass Mücken ein Herz haben?“, MA 153) umher. „Der Augenblick, in dem Carmen krank wurde, gleicht einer Szene in einem alten Musicalfilm“ (MA 15) – Vorhang auf zum letzten Lebensakt.

Das Moskito-Weibchen ist Carmens Schicksal, und umgekehrt. Im Tod der beiden schließt sich jener Kreis, den Carmen und die moderne Zivilisation so gern zu negieren versuchen. Der Stechmücke ergeht es am Ende, wie den meisten ihrer Artgenossen: nach einem Schlag bereits schwer getroffen, klemmt ihr ein auf die Bettdecke herabfallender Finger Carmens schließlich ein Bein ab. Weitgehend bewegungsunfähig, endet so wenige Tage später ihr ohnehin im Vergleich zum Menschen recht kurzes und obendrein überaus gefährliches Leben – Ironie des Schicksals, möchte man meinen, immerhin stirbt die stechwütige Übeltäterin ausgerechnet durch die Hand ihres dahinsiechenden Opfers. Dass sie einen ebenso gewaltsamen Tod erleidet wie ihre ‚Blutsschwester‘, bleibt innerfiktional bedeutungslos. Ihre kläglichen Bemühungen, den offensichtlich Augen verschließenden Ärzten Hinweise auf die Malaria mithilfe in Staub geschriebener Botschaften zu übermitteln, sind schließlich schon zu ihren Lebzeiten zum Scheitern verurteilt. Versteht man Stephans Roman jedoch als eindringliche Mahnung, unser anthropozentrisches Weltbild zu überdenken, ist das von Menschenhand herbeigeführte Ableben des Moskitos ein durchdachter Kniff, der einmal mehr und wohl am eindringlichsten die Verzahnung von Mensch und Natur illustriert. Die Malariamücke muss töten, um das eigene Weiterleben und damit den Fortbestand ihrer Art zu sichern, und wird eben deshalb vom Menschen, der seinerseits seine Gesundheit zu schützen versucht, permanent mit dem Tod bedroht. Eine Grenzziehung zwischen Kultur und Natur ist damit schlicht unmöglich: „Idiotische Menschlein […]. Ihr steht nicht außerhalb des Zyklus. Ihr seid mitten in ihm“ (MA 119).

Primärliteratur

Bergrath, Karin: Mord im Tiefflug. Ein Gänsekrimi. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012.

Hunt, Rebecca: Mr. Chartwell. Aus dem Engl. v. Hans-Ulrich Möhring. München: Luchterhand 2012.

O’Hanagan, Andrew: Leben und Ansichten von Maf dem Hund und seiner Freundin Marilyn Monroe. Frankfurt am Main: Fischer 2011.

Stephan, Carmen: Mal Aria. Frankfurt am Main: S. Fischer 2012. Zitiert als ‚MA‘ mit Seitenzahl.

Swann, Leonie: Garou. Ein Schaf-Thriller. München: Goldmann 2010.

Sekundärliteratur

Adorno, Theodor W. und Thomas Mann: Briefwechsel 1943-1955. Hrsg. v. Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002.

Thermann, Jochen: Kafkas Tiere. Fährten, Bahnen und Wege der Sprache. Marburg: tectum 2010.


[1] ‚Acarophobie‘ bezeichnet die Angst vor Insektenstichen/ stechenden Insekten sowie die Angst, sich dadurch eine Infektion zuzuziehen.

[2] ‚Ungleich‘ bezieht sich hierbei nur auf die eingesetzten Waffen, im Todeskampf sind sich Mensch und Tier erschreckend ähnlich: „Die Mücken starben wie ihre Opfer. Sie zuckten, lagen in Krämpfen, DDT lähmte ihren Körper, bis er verging“ (Stephan 2012, 164).

[3] Zwar bleibt der Moskito-Erzähler im Roman namenlos, doch ergibt sich aus der Natur der Sache, dass es sich dabei um ein Mückenweibchen handeln muss. Anopheles-Mücken ernähren sich hauptsächlich von Pflanzensäften. Nach einer Befruchtung bedürfen jedoch die Weibchen unbedingt einer Blutmahlzeit.

[4] Die Autorin selbst erkrankte vor einigen Jahren an Malaria.

Briefe über Hunde

Von Ulrich Holbein

Sommer 1983

Mein guter Herbert!

Von Willi hegte ich jederzeit die Opinion, bedürftiger, unerleuchteter, bewegungsfreudiger könne kein Tier, jedenfalls kein Hundetier, sein. Da kann ich nur sagen: abwarten. Gestern hielt ein Bus vor dem Stückhof, heraus sprangen ältere Damen, drei Halbstarke, Babies wurden getragen, Kinder in Kleidchen schüchterten herbei, ein Vietnamesengesicht namens Melanie, ein südindisches Gesicht namens Dominique, mitgebrachte Freunde (Andy!), nicht zuletzt ein Hund: diese alle kamen ihren Sohn, Onkel, Bruder etc. besuchen, den am 6. August mit Frau und zwei Kindern (Neger kommen in Kürze nach) aus Kamerun zurückgekehrten Ewald Rumpf.

Der Hund hub an, in erstaunlicher Geschwindigkeit im Haus herumzulaufen, hin und her und her und hin, drehte stets, kurz bevor er Hindernis erreichte, ab, z.B. vor einer Wand oder vor dem Hindernis Willi, lief dann in eine irgendeine irreale Richtung, knickte manchmal ein, ließ dadurch sich aber gar nicht beirren, sofort weiterzulaufen. Er war fuchsbraun, fast so groß wie Willi, leider unproportionierter. Ansonsten achtundneunzig Jahre alt, Hundejahre. Nun betrachtete ich den tierischen Greis genauer, Gesicht grau, Augen blicklos, Maul hing unerfreulich runter. Man erfuhr, daß er blind sei, daß er taub sei, daß er kein Fleisch mehr fresse, daß er schon immer zur Familie gehört. Trotz seines Alters nimmt er immer noch Anteil an seiner Umwelt, was ich mit diesem Brief bestätigen möchte. Man erfuhr, daß er Kobold heiße.

Hinsichtlich seines Gangs konnte von Abfederung der Pfoten nicht mehr die Rede sein, alte Krallen klirrten über alle Böden. Öffnete irgendwo sich eine Tür, prompt raste Kobold klirrend auf den neuen Raum zu, blieb aber oft auf der Schwelle hängen — bis freundliche Hände halfen. Er versuchte die Treppe in Angriff zu nehmen, nach drei Stufen sank er geschädigt zurück. Pausenlos ging die Jagd durch alle Räume weiter. Nach fünf Minuten gab es keinen Ort der unteren Etage, die dieser Greis nicht abgearbeitet hätte, unbeirrbar, unmüde gab es sich Wiederholungen schon erforschter Rumlaufmöglichkeiten hin. Wollte ich ihn von Teppichen und ebenerdigen Betten entfernen, gehorchte er nicht. Wollte ich ihn hindern, Zimmerschwellen zu überschreiten, vor denen Willi brav halt macht, merkte er nichts davon, stöckelte, klirrte weiter, brach alle zehn Schritte halb, alle neunzig Schritte ganz zusammen. Doch waren überall jene schon erwähnten helfenden Hände. Hättest auch Du geholfen? Oder, wie damals beim Autoanschieben, Dich asozial geweigert? Nach einer Stunde war die Unrast nicht beendet. Nach dreien auch nicht. Wo auch immer jeder der Gäste und Bewohner sich hinbewegte: überall war Er. Es war eine Sie.

Willi wich ihr aus, wenn sie herantorkelte, zweimal erwischte ich sie, wie sie Willi beißen wollte. Als Kater Werner erschien, hub die Greisin besonders schrill zu bellen an, mitten in der Küche. Ihr Geruchssinn funktionierte leider noch. Zielloses Rumgeschnüffel an sich jederzeit wiederholenden Objekten. Manchmal fand Kobolds Bewegungstendenz eine Kreisform. Nach sieben oder fünf Stunden legte sich K. platt irgendwo hin (bzw. keiner half ihr, sie wieder auf die Beine zu stellen) und schlief. Jeder stolperte über sie. Dann biß das Wesen aus dem Schlaf heraus in die Luft. Es schlief zeitweise sehr tief, dann konnte stolpern wer wollte. Es schien nicht zu atmen. Alle sagten: „Sie schläft bloß“. Ich wußte: Kobold war tot oder starb wenigstens.

Später aber, beim Aufbruch, war Kobold wieder klirrend präsent, stieg in den Bus, und schon war der Spuk genauso vorbei wie dieser Brief, samt seiner herzlich verrauschenden Grüße

Ulrich Holbein Mühlehecke

3588 Allmuthshausen Tel. 05681-6908

Liebe Familie Lepper,

es bellt und jault und bellt — und zwar nicht nur doppelt so oft und doppelt so laut wie früher, sondern zig mal öfter und lauter. Nicht einmal in den gesetzlich geschützten Zeiten kann man vor dem Gebell sicher sein. Der neue Hund bellt nicht nur in den Mittagspausen, er hat uns nicht nur schon etliche Mal vor 7 Uhr wachgebellt und Dutzende und Hunderte von konzentrierten Arbeitsstunden verdorben, er bellt nicht nur übertrieben laut, wenn bei Ihnen Autos halten oder bremsen (oft auch dann, wenn Autos nur langsam fahren), sondern auch bei jedem Auto, das bei uns hält. Ich brauche nur Holz zu hacken — und schon bellt es los; wir können uns auf unserem Grundstück nicht bewegen, weder weggehen noch ankommen, ohne daß wir ausgebellt werden. Ihre Hunde „bewachen“ nicht nur Ihr Haus, sondern vor allem unser Haus, einschließlich den öffentlichen Waldweg, Straße und Fußweg nach Rückersfeld, kurz: alles, was in einem Radius von etwa 150 m sich nur unmerklich bewegt, jedes Geräusch und jeder Geruch veranlaßt sofort lästige Bellsalven.

Wir wohnen jetzt das 8. Jahr hier an der Mühlenhecke und sind zufrieden und dankbar hinsichtlich unserer doch sonst sehr erfreulichen Nachbarschaft. Ich habe den hundekotgarnierten Waldweg, die verschmutzten Kleider, nachdem Daisy uns ansprang, und den Umstand, daß Auslauf und Züchtigung der Hunde praktisch neben meinem Schreibtisch stattfindet, stets tolerieren können, da sich dies alles in akzeptablen Grenzen hielt. Seit der bellenden Neuanschaffung aber sehnen wir uns nach jenen friedlichen Zeiten zurück, in denen Ihnen noch eine freundliche Siamkatze als Haustier genügte. Jetzt graut uns schon vor Frühling und Sommer, weil es dann noch länger hell ist und es in der Umgebung noch mehr Geräusche und Gerüche geben wird, die das unzumutbare und unnötige Gebell nur noch haufiger auslösen werden. Eine Ihrerseitige Schwerhörigkeit kann doch kein Grund dafür sein, daß wir einer erhöhten Lärmdosis ausgesetzt werden, zumal es hier wirklich keine Gartendiebe gibt, sondern nur erholungsuchende Spaziergänger und Kinder, die Zettel austragen. Sie und wir wohnen hier am Rand von Allmuthshausen in wunderbar bevorzugter Lage in freier Natur in diesem Waldtal, jenseits von Stadtlärm und Dorflärm — warum muß dieser Frieden von akustischer Umweltverschmutzung nicht nur täglich, sondern stündlich und oft öfter als stündlich unterbrochen werden?

Ich bitte Sie um Verständnis und Abhilfe mit freundlichen Grüßen

Brief an Bodo Schmidt:

29.1.1994

Doch jetzt zu dem neuen Thema. Es führt leider ins Bodenlose. Einem Schneiderianer und Dackelfreund darf man sowas kaum beichten. Schwere Gewissensprüfungen stehen dir bevor. Seit Jahren leide ich unter Gebell. Von zehn Jahren Leben und Bücherschreiben gingen mir glatt drei ersatzlos durch Gebell verloren. Ein Gebell früh um 5 zeigtigt 18 Stunden Unausgeschlafenheit, Unkonzentration und existenziellste Zerknirschung. Da trotz wiederholter Bitten, Klagen und Drohungen Familie Lepper nichts tut, das Gebell abzustellen und ich auf offiziellem Weg nicht recht behalten würde, da es insgesamt und objektiv doch ziemlich selten bellt, reifte nun der Plan, zwei deutsche Schäferhunde mittels schädlicher Leberwurst verstummen zu lassen. Steinmann (also irgendwie du) erklärte sich bereit, die tödliche Wurst herzustellen. Herr Uecker aus Hamburg sorgte für verläßliche Rezeptur. Bitte gehe nicht zur nächsten Polizeidienststelle und denunziere bitte keinesfalls die unschuldigen Komplizen — ich allein bin in dieser Sache der treibende Motor. Noch ist nichts geschehen. Da Steinmann nie kommt, schrieb ich neulich an den Jugendfreund Herbert den folgenden Brief (bitte verzeih mir, daß ich ihm gegenüber Dich nur Ersatzfreund nenne; das muß ich strategisch tun, um ihn in seiner Rolle als dienstbaren Hundeschlächter einzuweisen; selbstredend bist du allein Nr. 1, und mit der Witzfigur Müller verbindet mich bloß seine glatzenförmige Zielscheibe und halt Nostalgie: Darmstadt 1972. Hier also ein Ausschnitt aus meinem Brief Mitte Januar an ihn:

„Leppers gehen nicht auf meinen schriftlichen Vorschlag ein (Diskette nicht mehr lesbar), ihren Hunden jene im Zoohandel erhältlichen Halsbänder anzulegen, die mit der Aussendung verkaftbarer Stromschläge jedem Hund das Bellen erfolgreich abgewöhnen. Aus meinen Briefwechsel mit Steinmann – Stichwort Leberwurst – geht hervor, daß ich auf dem Scheitelpunkt meiner Gebellphobie angekommen bin und jetzt von einem Hamburger Apotheker namens Uecker, der alle 7 Bücher von mir auswendig kennt und mir gestand, er hätte noch bei keinem Autor der Weltliteratur sich sooo verwandt gefühlt, ausreichende Medikamente diskret übersandt bekam und es jetzt nur noch drauf ankommt, eine Boulette im Wald auszulegen, wo täglich um 17 Uhr die beiden deutschen Schäferhunde ohne Aufsicht herumstreunen, seitdem schimpft mein Gewissen mich Mörder. So als spüre ich intuitiv, daß ich eines Tages auch nichtanimalische Wesen (homo sapiensartige Leute), falls sie mir lästig würden, mit Ueckers Hilfe wegschaffen könne, of course ohne jede medikamentöse Spur im Leib. Es stellt sich ein sofortiges, befreiendes Herzversagen ein. Falls Du also mal supersensibel in kosmische Räume abzwitschern möchtest, hab ich hier LSD von erstaunlicher Qualität vorrätig, einen Jubiläumstrip, 1943-1993, doppelt so teuer wie übliche Ware, und falls Du es in diesem Leben vor Frust & Qual nicht mehr aushälst, kannst du dich ebenso vertrauensvoll an Uecker und mich wenden, 20 Tbl. Digimerck 0,1 (dosis letalis) plus 2 Tbl MCP-ratiopharm (gegen das Erbrechen erstgenannter Wirkstoffe), und schon bist du da, wo wir neulich in Darmstadt leider völlig das Grab Greis Müllers zu besuchen versäumten.

Doch zurück zur Leberwurst. Steinmann erklärte sich brieflich bereit, im Wald die inhumane Leberwurst auszulegen. Jetzt aber, wo es ernst wird, scheint er einen Rückzieher zu machen. Jedenfalls hat er zur Zeit unabsehbar viel dort unten zu tun, kann nicht raufkommen. Jetzt eine Frage an Dich — Du ahnst, wie sie lauten könnte. Eingedenk jener schönen Stunden anno 83, in denen Du mit gelben Plastikhandschuhen existenzielle Studien an vollbesetzten Mausefallen triebst, eingedenk ferner deiner etappenweisen Katzenertränkungen und Hinrichtungen diverser Mitbewohner namens Martin, sodann auch eingedenk deiner erprobten Fähigkeiten als ein dem Zeitschmecker Siebeck stets erfolgreich nachstrebenden Bereiter köstlicher Reis- und Fleischgerichte möchte ich Dir die Gelegenheit nicht vorenthalten, dich vom zur Zeit nicht äußerst verläßlichen Steinmann ausstechen zu lassen, in der ordnungsgemäßen Durchführung wichtiger Arbeiten zugunsten meiner ungestörten Weiterarbeit auf literarisch-künstlerischem Gebiet. Immerhin kann ich mir sagen, daß zoologisch zwischen Maus und Hund kein nennenswerter Unterschied sei, bloß ein kleiner Größenunterschied. Erst ein Mensch ist meiner Ansicht nach eine neue Qualität, die ich niemals mit jenen hoffentlich von Dir bereiteten Bouletten umlegen könnte, wollte und würde. Ich weiß nicht mal, ob ich die leckere Dosis letalis in gebratenes Hackfleisch einarbeiten soll, oder in die Frikadellen-Rohmasse? Oder mitbraten? Also schon aus solch küchenspezifischen Gründen sehe ich mich außerstande, das Bellen endlich abzustellen. Eher brächte ich es fertig, ein Taxi zu bestellen und zum Steuerberater zu fahren.“

Anmerkung: Müller will mich nämlich ständig überreden, daß ich einen Steuerbrater bräuchte, doch möchte ich das Thema nicht in diese Richtung erweitern. Jedenfalls sandte er mir postwendend einen Brief mit Thomas Mann-Zitat, der im Alter sich nicht mehr an Menschen erfreuen konnte, sondern nur noch an Hunden. Dann schalt er mich, daß ich oft fernsehe, also dasselbe treibe wie Familie Lepper. Und dann sagte er mir zu, die Frikadelle für mich zu braten, unter der Bedingung, aus der restlichen Fleischmasse Frikadellen für ihn und mich machen, zu gemeinsamem Verzehr — obwohl er genau weiß, daß ich mir als Vegetarier gefalle. Zugleich teilte er mir mit, daß er nach Florida reise, und ich solle unbedingt mit.

Nun weißt du alles, was zum Verständnis meines beiliegenden Briefs an Müller wichtig ist, den ich liebevoll und sorgfältig mit deiner Zunge zu belecken bitte, um ihn alsdann auf dem Weg zur Schulleiterin in einen Hamburger Briefkasten einzuwerfen, 1. auf daß Müller ob des Poststempels staune, wo ich mich überall herumtreibe, und 2. damit du, o Freund, in dieser heiklen Angelegenheit, in der es nun wirklich um Leben & Tod geht, rechtzeitig mitreden kannst. Die Medikamente stehen bereit, sie sind haltbar bis 97. Nebenbei quäle ich mich mit der Entscheidung, ob ich für zehn Tage mit nach Florida soll. Ich erhoffe mir von dir ein Nein zu Florida und ein Ja zur Leberwurst, bzw. eine Beruhigung meines Gewissens aus deiner Sicht, wobei ich zu bedenken bitte, daß das Christentum nie viel für Tiere übrighatte. Wehe, wenn du mich vom Hundemord abhalten möchtest und derweilen selber Würste mampfst.

Verzeihe jetzt schon

Edler Burghard,

Wie kann man nur sooo edel sein und nicht der Dritte im verruchten Bunde sein wollen, und das bloß, um vor Gott ganz prima dazustehen als fleckenlos mahnende Stimme, derweilen ich dann bloß als verunreinigte Seele danebensteh und schamrot mit Mülli in die Hölle muß, und mit Steimann, Ücker, Schmidt, Schopenhauer und Fariduddin Attar, derweilen du mit Reinhold Schneider, Drewermann & Don Camillo „dort, wo es schimmert“ (Klopstock) sitzen darfst, herabschauen auf uns schweißtriefende Orkusbraten? Du hast also noch nie eine Mücke plattgeschlagen und keinesfalls eine Wurst getötet? Folglich dürfte ich auch mein Brot nicht mehr mit dir brechen dürfen? Darf ich wenigstens Mäuse bekämpfen? Nachts flitzen und rammeln sie mir stundenlang überm Kopf herum.

Diffizile theologische Probleme eröffnest du: Falls ich die Boulette auslege, kannst du keinen Tee mehr mit mir trinken. Falls ich mich für den Rest meines Lebens jeden Morgen ab 5 wachbellen lasse, um alsdann ganztägig übernächtigt und unkonzentriert am Schreibtisch zu leiden, alle paar Minuten vom Gebell zusammenschrecke, obwohl ich allein 1993 über 8000.- DM für zusätzliche Lärmschutzfenster ausgab, was kaum half, falls mir also auch von den nächsten zehn Jahren vier rundweg fortgebellt werden und mein chef d’oeuvre, z.B. „Isis entschleiert“, unabsehbar vertagt wird, dann kannst du weiterhin mit mir Tee trinken!?!? Von Herbert erhoffte und erbat ich mir bereits vor Jahren brieflich „die bedingungslose Unterstützung meiner fraglichsten Tendenzen“ und der Gute gewährte sie mir reichlich.

Deine abgrundtiefenpsychologische Kompaktdeutung unserer virtuell unvermeidlichen und dreifach auskostbaren Lebenswurstiaden sind in ihrer glänzenden Stringenz und inneren Logik unschlagbar, plausibel, unwiderlegbar und vieles mehr, dennoch scheinen mir deine Ausführungen von deiner abgebremsten sexuellen Energie nicht nur angefärbt, sondern durch und durch imprägniert zu sein; deine Formulierungen triefen und leuchten von einer Geilheit, die ein Normalgenießer vermutlich zeitlebens nie und nimmermehr genießen darf — hybrid, verrucht! Wenns nach dir ginge, müßten alle Leute, die je in und um und bei Darmstadt wohnten, Afterverkehr üben — das geht Müller und mir entschieden zu weit, bitteschön! Zwischen uns – hiermit seis reumütig gebeichtet – war praktisch gar nichts; seit 73 sind wir in aufrichtiges Bedauern verstrickt, nicht schwul zu sein. Immer wenn ich ihn zu küssen versuchte (bei Begrüßungen), wich er angewidert aus und betonte, er liebe nur meinen Geist, von dem er – unter uns gesagt – nicht viel mitkriegt. Er sieht mich bevorzugt als Mensch, nicht als Literat. Allenfalls saßen wir mal in einer Badewanne, oder er führte mir Dias mit Nacktbildern diverser Freundinnen vor, derweilen wir uns vergebens zu kraulen und zu erregen versuchten. Wir hockten nackt am Projektor; lediglich die Brille behielt er auf, um den bleichen Hintern seiner Urholden Elke wenigstens halbwegs sehen zu können.

Nie gelang es mir, diesem Mann das Fleischessen ernsthaft abzugewöhnen, trotz eines Riesenaufgebots an Verekelungsmethoden, edlen Zitatsammlungen (schier aus dem Hause des Heiligen Burghard) und beispiellosem Vorleuchten. In diesem Punkt halten Müller und Schmid mir gegenüber deutlich zusammen. Beide essen Wurst, beide sind etwas älter als ich, leiden an Haarausfall, wollen nicht mein Privatsekretär werden und beide lieben hartkantige popular music. Lehrer Müller unterrichtet sogar E-Gitarre. Obwohl ich ihn bereits 1973 in Debussy einweihte und er auch eine Zeit lang so tat, als hätte es geklappt, hört er jetzt ausschließlich Phil Collins, Nirvana — ich muß nachfragen, was für Gruppen er z.Z. präferiert. Auch Steinmann verhüllt nur schlecht seine Klassikferne. Und Ücker raucht sogar. Du siehst, einsamer als ich kann man gar nicht sein. Keiner will mit mir Hunde töten gehn, d.h. der dienstbare Herbert will und würde schon, aber im Grunde schaudert es mich ja selber davor. Ich möchte bloß, daß nicht gebellt wird, und das ist bisher durch nichts zu erzielen.

Bedenklich bleibt lediglich dies, daß du keinen Tee mehr mit mir trinken möchtest, bloß weil ich eine Fliege am Beinchen zu verletzen erwog. Einem Freund möcht ich beichten können: „Ich hab soeben leider meine Oma geschlachtet“ und dann nicht von der Tür gewiesen werden, sondern in deiner Küche Asyl genießen, vor den Nachstellungen Derricks und Harry Kleins. Sonst können wir uns ja gleich so ungnädig anraunzen wie Dr. Treher und ich uns. Was vielleicht nicht ohne Interesse wäre. Gäbe es ein Thema, anhand dessen wir uns brieflich restlos zerstreiten könnten? Das würde ich gern erforschen = provozieren, nur wie? So eine billige Lebenswurst dürfte da nicht ausreichen.

Da ich in Gedanken bereits Daisy und Shanya (so heißen heut deutsche Schäferhunde selbst bei Fam. Lepper) vergiftet habe, kann ich die Tat aufgrund deiner Unterstützung noch so unausgeführt lassen, im Innern und vor Gott bin ich bereits schuldig geworden und hab im Herzen die Ehe gebrochen, derweilen es draußen weiterbellt — wie kann man nur aufseiten aggressiv dressierter Natur fechten, statt zur Literaturgeschichte und ihren Bedingungen (Stille) zu halten?

Vorspruch:

Und es kann doch auch nicht zu Deiner Zunft gehören, daß Freundschaft da immer dem Beruf geopfert werden muß. Was hab ich nur an mir, daß ich immer nur zur Spottfigur reiche? Wieviel Schmidts werden noch kommen, bis ich ihnen die Nulpe endgültig abnehme und zur finalsten Briefvorlage herhalte? Jedes Mäusevergiften im Feuilleton, jede Freundschaftstrübung als Rundbrief bei den Kollegen, — (Herbert Müller brieflich am 29.2.94 an mich)

Mein entzahnter Burghard,

Nulpe und Pulpa verliefen sich im Wald — besten Dank für die gurgelnden und spritzenden Berichte deiner genußvoll vorverlegten Pseudokastration: Selbstverständlich wäre nichts davon nötig gewesen! Seit 1880 kann jeder Zahn, außer ein paradontös hervorwackelnder oder abgrundtief vereiterter, prinzipiell gerettet werden, kraft raffinierter Wurzelbehandlung. Nur verdienen halt die Ärzte – sowieso stets im Bunde mit Kukident – mit der Ersatzproduktion wesentlich mehr als mit Zahnrettung, und so werden denn pro Jahr in der BRD 60 Millionen Zähne gezogen, 59 Millionen unnötigerweise! Ich könnte Storys erzählen. Wenn ich jedesmal auf den Rat meiner Dentisten gehört hätte, stünde ich bereits jetzt mit Hollywood-Blendax-Vollprothese vor dir, statt gelbe, marode Originalsubstanz vorweisen zu können. Als Hilfspfleger im Stadtkrankenhaus Kassel konnte ich psychisch unangefochten Sammelurin einsammeln und durchs Nierensteingitter gießen, randvolle Schieber leeren, im WC auf Marabubeinen stehende, neunzigjährige, moribunde Hängeärsche abwischen, wobei mir auf Kniekehlenhöhe Hodenbeutel ungepflegt in die Quere baumelten, den Geruch von Fistelabsaugsaft ertragen — mein Brechzentrum wurde erst dann gekitzelt, als es die flamingofarben-schneeweißen Gebisse der Patienten von Belag und Algenbewuchs zu befreien galt. Lieber mümmele ich für den Rest meiner Tage Grießbrei, als daß ich solche Objekte, samt Hakenkonstruktion in mein Maul hineinließe. Unser nächstes Teetrinken wird also doppelt getrübt sein: Du wirst mich schlürfend verdächtigen, daß vor dir ein Hundemörder sitze, und ich werde gucken, ob dir beim Lachen verdächtiges Metall aus der Lücke blitzt — oft verändern ja Prothesen die Physiognomie nachdrücklich, formen komplette Mundpartien gespenstisch um, immer ins noch Mißglücktere hinein; man steht dann vor einem Wolkenkratzer und sehnt sich nach dem Tante-Emma-Laden, der da vorher stand und den man sich gedanklich kaum noch rekonstruieren kann. Deine Alpträume können sich also noch steigern. Die Probleme beginnen stets erst nach der Extraktion. Aber was nimmt der Mensch nicht alles in Kauf, um 19jährige Pobacken auf Augenhöhe sich gegeneinander bewegen zu sehen, beim wiederholten Spritzenaufziehen, anläßlich harter, einfach nicht betäubbarer Brocken. Ich bitte um weiterführende Berichte. Und jetzt kommt etwas, was dich hoffentlich von jedem Teppich fegen wird: An genau derselben von dir bezeichenten Stelle im Mund – falls ich nicht links und rechts verwechselte – wurde auch mir – noch dazu praktisch zeitgleich! – etwas Ersetzbares aus dem Kiefer gehebelt, allerdings – Verzeihung – nicht gleich zwei Backenzähne, sondern bloß einer, dafür ohne die Zugabe eines halbierten Gesäßes bzw. hing da ein weißer Kittel drüber. Hoffentlich hast du dir die Beutestücke geben lassen, auf daß wir demnächst die drei Zähne vergleichen können. Ich kann beurteilen, ob es nötig war, die deinen zu ziehen. Bei mir war es absolut unnötig. Ich hatte bloß ein schlechtes Gewissen gegenüber Dr. Fried. Weil ich ihm bereits mehrmals Frust bereitet habe, indem ich ihn nichts ziehen ließ, wollte ich ihm ein kleines Erfolgserlebnis am Feierabend gönnen; es war schon 18 Uhr 30. Außerdem saß ein gewisser Werner im Wartezimmer, der mich chauffiert hatte, und dem wollte ich einen Beweis mitbringen, daß sich sein Aufwand an Hilfe und Zeit gelohnt habe und der dann auch bewundernd reagierte, als ich ihm plötzlich einen Zahn aus dunkelrotem Läppchen hervorsteigen ließ. Werner fuhr mich dann zu meinen Eltern, die soeben mit Oma, 89, Antje und Georg am Abendbrottisch saßen, Pizza o.ä. aßen und denen manch ein Brocken im Halse steckenblieb, als ich den Zahn, der machtvoll alle viere von sich streckte, in die kauende Runde hielt und aus den Tiefen des Schlundes blutstillende Watte hervorzog. Das hätte ich nicht tun sollen. Denn offenbar riß ich damit die Wunde neu auf und blutete nun vier Stunden lang wie ein Schwein, wobei nun auch ich einen permanenten Blutwurstgeschmack (Blutwurst, die rituelle Lieblingsspeise meines nekrophilen Vaters H. Holbein) im Maul hatte, was für einen Vollblutvegetarier eine ganz besonders infame Zumutung darstellt. Nachts nach 23 Uhr stand ich dann eine halbe Stunde an einer Bushaltestelle im Ödland von Wabern, spuckte aus, da klatschte ein Schwall Herzblut aufs desolate Pflaster, was die busfahrenden Frühaufsteher von Wabern garantiert veranlaßt hat, völlig verstört die nächste Mordkommision anzuklingeln (Oberinspektor Derrick).

Nebenbei entnahm ich deinen Ausführungen, daß du doch noch realen Erfüllungen entgegenlebst, nämlich kußfeste Prothetik erhoffst. Also irgendwie werd ich aus deiner halb simulierten, halb wundgepeitschten Asketik immer noch nicht so richtig schlau. Wahrscheinlich gehen wir noch nicht genügend ins Detail. Vermutlich bist du jener jungfräuliche Eunuch, der beneidenswertere Wonnen zu fühlen vermag als ein dumpfer Pascha mit dreihundertköpfigem Harem. Kierkegaard hats glaub ich auch so gemacht.

Jetzt noch ein bißchen Kleckerkram: 1. Many thanks für die Mosaik-Enthüllung (wird eingearbeitet) 2. Bitte meditativ die Briefmarke betrachten — Mülli im Profil erschreckend ähnlich; und so einen soll ich besteigen? 3. Am 18.4. um 10 Uhr 11 treffe ich auf dem HBH Hamburg ein, bitte schon den Teppich ausrollen und mit Schulchor plus Joghurta Packovska den Knallmasse-Dichter empfangen, bzw. rufe ich dich ganz zwanglos mal nachmittags an, falls ich freie Telefonzellen finde. Falls du zwischenzeitlich den Zettelverkäufer Achsel inspiriert hast, daß am 18. oder 19. abends ich in seinem Laden lesen soll, so bin ich hierzu gern bereit. Er soll mich dann anrufen — es kann nämlich niemals der Autor der werbende oder vorschlagende Teil sein, schon gar nicht ich, der ich nicht äußerst gern vorlese, doch gern die Summen für die mir tatsächlich noch fehlenden Schmidtbücher drücke. Übrigens habe ich in Hamburg noch keine Unterkunft, auch keinerlei zwingenden Termin, zugleich vermute ich, daß diesmal sich das nicht so günstig fügt mit schwesterlich leerstehender Wohnung mit Pappeln vorm Fenster. Zur Not müßte ich zum Giftmischer Ücker ausweichen, der mich gern einlüde, aber unter einer Xanthippe leidet, die ihm sogar Briefwechsel mit mir verbot. 4. Du fichst also weiterhin auf der Seite radaumachender Köter, statt auf der Seite sensitiver Dichter und Denker, deren ouevre aufgrund permanenten Gebells partout nicht richtig anschwellen kann? Heut stand auf einmal Frau Lepper von nebenan in meinem Arbeitszimmer, sie hatte sich aus Versehn ausgesperrt und wollt nun bei mir den Klempner anrufen, daß er ihr das Haus irgendwie aufmacht. Ich wagte das Thema Hunde nicht anzusprechen. (Ich an Burghard Schmid, 19.3.1994)

18.15.2035 — Computer-Uhr defekt. In Wirklichkeit schreiben wir den 4.4.94. Vorsprüche: — entzahnte Kiefern schnattern —

     Goethe: An Schwager Kronos, vertont von Schubert (Franz)

— und ich sehe uns alle von Kühle und Abend umgeben – weit von den Sternen abgerissen – von Johanniswürmchen belustigt, von Irrwischen beunruhigt — alle einander verhüllt, jeder einsam und sein eignes Leben nur fühlend durch die warme pulsierende Hand des Freundes, die er im Dunkeln hält.

                    Jean Paul: „Hesperus“, 1794

Ein Freund ist jemand, zu dem man immer kommen kann.

                 Wahlspruch Herbert Müllers seit 1973

Am Bahnhofseingang ein Pfarrer und vier Nonnen: schlechtes Omen! Den ganzen Nachmittag über hatte ein Hund aus der Nachbarschaft schauerlich geheult. Ich beneide die starken Naturen, die in solchen Augenblicken auf so etwas nicht achten.

        Reinhold Schneider — nein: Gustave Flaubert: Reise in den Orient,

                                                   22.10.1849

 — ein Dackel brüllte —

         Arno Schmid irgendwo

Geliebter Madenmörder!

Unglaublich, wie wir uns durchschauen. Ich weiß genau, warum dein Brief mit Tesa rundum wasserdicht und madenfest versiegelt war, derart, daß ich mit Messern statt vom Rand her sehr seitlich – auf Adressenhöhe – in die Sendung eindringen mußte. Du ahntest etwas von der Wurffreude bundesdeutscher Postangestellter, und sahst bereits das kostbare Odol-Schild sich metallen aus dem Brief hervorsicheln — many thanks!

Falls du auf einen Nebeneffekt deines Asketentums baust, nämlich dir (durch Kontemplation der Pobacken deiner Zahnassistentin) kein Aids einzuhandeln, so muß ich dich in diesem Punkt verunsichern. In einem TV-Report wurde aufgedeckt, daß 600 Aidsfälle weder Bluter noch Fixer noch Afterverkehrer noch Fremdgeher sind, sondern Kukident-Anwärter. Auch Dr. Struensee gehört zu denen, die die Winkelstücke ihrer Bohrer nicht desinfizieren. Das dauert nämlich 40 teure Minuten in einer Apparatur, die erst 18 % aller Zahnärzte sich überhaupt anschaffen; das würde alles nur das Durchschleusen der Patientenherde verlangsamen. Folglich entlädt jeder Bohrer beim Bohren verläßlich die Blut- und Speichelreste des Vorgängers in deinen unschuldigen Mund. Vertiefe dich also in die Kismet-Gesichter des Wartezimmers. Achte darauf, daß vor dir nie junge kopulierfreudige Patienten drankommen, sondern stets einsame Kriegswitwen, bei denen allerdings wiederum kaum gebohrt werden muß. Falls dich nicht auf diese Weise dein Schicksal ereilt, dann doch wohl durch den im Jahre 2005 flächendeckend auch beim Menschen ausbrechenden Rinderwahnsinn, zuzüglich Schweinepest.

Doch nun zu einem ebenso ernsthaften Thema: Du darfst – ohne bei mir vorher zutraulich um Erlaubnis zu fragen – Maden morden und Türken aus dem Fenster werfen, sogar obdachlose Dichterfürsten ausladen, nur ich und Mülli dürfen nichts, höchstens wichsen, nicht aber Lärmquellen abdrehen, die nachweislich meine Magengeschwüre weitertreiben, also mein Ableben vorverlegen (und ewig bellen die Hunde über meinen Tod hinaus), und das nur weil in meinem Fall hirnlos jaulende, keifende, kläffende, fiepende NATUR den prinzipiell pazifistischen, immerhin mit Notwehrmitteln versehenen GEIST besiegen soll, wenns nach dir ginge. Du darfst im Lauf des Lebens 40 Schweine töten (jeder Deutsche zerkaut im Jahr ein halbes), ich aber null Hunde, die laut Darwin & Grzimek um nichts höher stehn als Schweine. Na gut, Maden stehn nicht ganz so hoch, doch kommt – falls Menschenähnlichkeit als Kriterium der Tötungshemmung fortfällt – da wieder das Kriterium der ausgelöschten Individuenzahl ins Spiel. Ich lasse einen einzelnen Hund (der Gedanke allein/kann tödlich sein) vollständig am Leben, du aber spielst de facto und in natura Saddam und streust Giftgas über deinen wimmelnden, vom Sperma weichgemachten Perser (Dschingis Kahn mußte zu erobernde Perserstädte immer erst sturmreif machen). Du mißt mich und dich mit zweierlei Zollstock — kein Schwein will auf meiner Seite fechten, das find ich fies. „Ich trete die Kelter allein.“ Meinen Aufenthalt in Kassel nutzte ich für den Besuch eines Zooladens, dort erkundigte ich mich nach Hundehalsbändern, die mittels Elektroimpuls Hunden das Bellen aberziehen — der Fachhändler sah mich feindlich an, als hätte ich Zyklon B verlangt, solche Waren führe er nicht, das wär ja genauso, als wolle man einem Menschen das Sprechen abgewöhnen, Bellen sei Kommunikation — er betrachtete meine leidgezeichnete, allein heut nacht 4 x wachgebellte, jetzt kopfwehbehaftet und totenbleich herumsitzende, zu konzentrierter literarischer Produktion deshalb seit Wochen komplett unfähige Person als Tierschinder und hätte jederzeit in dir einen beredten, also an meinem Unglück mitschuldigen Eideshelfer gefunden, soviel zu Motiv Nr. 1. Nun ging ich noch ein wenig durch den Gestank des Ladens, beobachtete einen Opa, der Zierfische kaufte, die glitzernden Minitierchen nämlich in einem prall wassergefüllten Zellophanbeutel abtransportierte, und schon kam Briefmotiv Nr. 2 in Sicht: Neben einem Stapel Schokolade für Hunde stieg ein Stapel weißer Schokolade für Hunde auf — und weit und breit kein Neger.