Leben und leben lassen

Von Ulrich Holbein

Holbein_Leben und Lebenlassen

Der geprellte Purzel

Skrupel eines Lebensretters

Von Ulrich Holbein

Nicht nur rette ich pro Tag ein Frühstücksei vor dem sicheren Verzehrtwerden durch mich, nicht nur bleiben durch meinen unfanatischen Vegetarismus im Lauf von 75 Lebensjahren genau dreißig Schweine am Leben; denn jeder Bundesbürger frißt pro Jahr eine halbe Sau. Sondern neulich rettete ich sogar recht aktiv einem Huhn das Leben! Einem Huhn! Ich! Obwohl ich mich eigentlich eher als Ästhet betrachte, im Sinne Körkegooohrs (so wird nämlich der Genosse von Prinz Hamlet und Lars von Trier ausgeprochen!) und erst in zweiter Linie als DLRG-Schein-Besitzer. Ich rettete es nicht indirekt, per Salatverzehr, nein, äußerst direkt rettete ich es. Nicht, daß nochmal Herr Schmidt von mir sagt, ich sei zerfressen von Menschenhaß, nur weil ich mal beiläufig geäußert habe, es gäbe in Köln ziemlich viele Leute.

Das aber mit der Rettung eines Huhns kam so: Siebenschläfer stehen unter Naturschutz. Nichts gegen unfreiwillige Haustiere, aber allein diesen Sommer habe ich im Holzzelt meines Schlafzimmers, auf das neulich im September ganz besonders dicke Eicheln prasselten, hierbei sogar Schindeln perforierten, woraus der bäuerliche Schluß gezogen wurde, ein harter Winter steht bevor, zumal die Wildgänse heuer ziemlich früh und zügig vorbeikamen, auf dem Weg von Dänemark über Köln nach Ägypten, und sich nicht lang aufhielten rund ums Knüllköpfchen, kurz: Beim Aussetzen meines allnächtlich dank Lebendfalle gefangenen Siebenschläfers, auf daß er mir nicht länger nebens Kopfkissen kacke, komme ich an zwölf Truthähnen vorbei — neuerdigns sind’s nur noch zwei. Was aber ein anderes Kapitel wäre. Überdies komme ich kurz vor EDEKA und ersatzlos zugemachter Poststelle am Gehöft des Bauern Nickel vorbei, jenes, der neulich die vorletzte Dorflinde abschlug mit der Begründung: „Is doch nur Unkraut. Wächst doch widder nach, das Zeuch!“ Allwo Dackel Purzel, der mit der Zornesfalte, mich diesmal nicht anblaffte, sondern hohem Alter zum Trotz eins der freilaufenden Hühner in der Schnauze hielt, so schuldlos wie bissig. Gakeleja, mit herabhängenden Flügeln, ließ reglos das Massaker über sich ergehn.

Statt nun aber den ewigen heiligen Kreislauf allen Sterbens, Werdens und Stoffwechselns durchlaufen zu lassen, wie er nun mal immer und allerorten abrollt, verweigerte ich Mutti Natur den Kotau und griff ein: Zornwurst Purzel, als ich mit möglichst zoologischer Drohgebärde heranfegte, ließ los und schwirrte ab. Ich klingelte dann bei Nickels. Die kamen teigbleich und banal hervor und guckten auf meinen Zeigefinger, den ich in Richtung Huhn hielt. Immer noch in Angststarre saß es da, im Kreis seiner gelassenen Federn. Und starrte unnachahmlich unbeteiligt in eine metaphysische Ferne, als sein eigenes Standbild. Frau Nickel nahm’s auf den Arm, das steife Opfer, in das langsam wieder Leben kam, und entließ es zu den anderen Hühnern. Gerupft, aber sichtlich ohne unangenehme Erinnerungen, rannte es hierhin und dahin, besinnungslos, pickte irgendwo hin, so wahllos wie möglich, warf ruckhaft das Geklunkere herum. So bin ich nun mal. Der geborene Hühnerretter.

Hinterher kamen mir dann Skrupel: Wieso focht ich auf Seiten von Nickels perverser Bratpfanne? Statt aufseiten der natürlichen Triebe eines unverdorbenen Dackels! Ach ja: heirate, du wirst es bereuen, heirate nicht, du wirst es auch bereuen, tu keins von beidem, du wirst alles bereuen. Worauf bereits Körkegoooohr aufmerksam machte. Fazit: Leute kenne ich, die heilen und retten ständig die Welt. Ich für meinen Teil rettete für den Anfang immerhin ein Huhn. Möge Shiva mir’s vergelten. Falls ich an den glaube, und um auch den zu retten, glaube ich natürlich sehr an ihn. Und um mich im nächsten Leben gackernd von einem Menschen retten zu lassen, der in diesem Leben Purzel heißt.