Der Löwe und die Kellerassel: Gender im Reich der Tiere

von Thomas Becker

Der Löwe, der Elefant, der Schimpanse sind maskulin, die Kellerassel, die Fliege und die Schnecke sind feminin, jedenfalls grammatisch. Der König der Tiere und der ihn umgebende Hochadel sind maskulin, das Ungeziefer feminin. Da sieht man’s mal wieder: Das Deutsche ist eine Männersprache. Köpcke und Zubin (1996, 484) haben diesen grimmigen Verdacht bestätigt:

Köpcke_Zubin

Die beiden Autoren interpretieren den Befund so: Er zeige, dass „das Deutsche im Kontext der Klassifikation der belebten Welt das Femininum dafür ausnutzt, um Distanz zum Menschen auszudrücken. Komplementär dazu dient das Maskulinum dazu, Nähe zum Menschen auf einem anthropozentrischen Kontinuum zu signalisieren“ (ibid.).

Das war nicht immer so: Die etwas frauenfreundlicheren Germaninnen und Germanen und die frühen Deutschen haben das Ungeziefer anders „gegendert“: Assel ist im Grimmschen Wörterbuch (DWb, s.v.), also im 19. Jh., noch ein Maskulinum; Schnecke ist erst seit Beginn des Neuhochdeutschen weiblich (DWb); Krake ist immer noch maskulin (so das maßgebliche große Duden-Wörterbuch in 10 Bänden; der Rechtschreib-Duden bezeichnet das Femininum als umgangssprachlich); Hummel war noch im 16. Jh. ein Maskulinum (DWb). Die Laus und die Fliege waren immer weiblich, aber ein paar Feminina sollte es ruhig auch im Reich der Ungeziefer geben. Viper, Python und Kobra sind Lehnwörter, die offenbar bei der Integration in die deutsche Sprache durch ihren Oberbegriff, das Femininum Schlange, ihr Genus erhalten haben, wie es meist geschieht (das Baguette, der Mozzarella wegen das Brot, der Käse). Schlange war aber althochdeutsch noch ein Maskulinum. Dass die Affen alle Maskulina sind (auch der auf -a auslautende Gorilla), liegt sicher auch an dem maskulinen Genus des Oberbegriffs Affe, das in der frühen Neuzeit auch feminin verwendet wurde (DWb, ahd. affa, f. neben dem etwas häufigeren affin und dem noch häufigeren Maskulinum affo).

Was ist passiert: Haben sich die Sprecher des Deutschen von ihrem Ungeziefer dadurch distanziert, dass sie – wie boshaft! – bei den Bezeichnungen der Viecher das Genus verändert haben? Ist die ungeheuerliche Femininisierung des Ungeziefers eine soziale Konstruktion der frühen Neuzeit, die vielleicht gar mit der Entwicklung des Hygiene-Bewusstseins korreliert?

In gewissem Sinne ja, boshaft war sie aber nicht. Die genannten Maskulina Assel, Schnecke etc. waren schwach flektiert, d.h., sie gehörten zu den Substantiva wie Mensch oder Bote, die in allen obliquen Kasus des Singulars und in allen Kasus des Plurals die Endung -en aufweisen (des Menschen), im Gegensatz zu den starken Substantiva wie Hund, die im Genitiv Singular das Suffix -(e)s tragen (des Hundes). Diese ursprünglich umfangreiche schwache Klasse wurde stark dezimiert, und wird es heute noch (den Planet, den Präsident, den Bär für den Planeten etc.). Die Feminina dieser Klasse sind ganz verschwunden, denn bei ihnen war die schwache Flexionsweise auch besonders unpraktisch: Ein verheirateter Ritter, der „die frouwen“ oder „der frouwen minne“ begehrt, konnte dies mit Anstand tun, denn „die/der frouwen“ konnte sich auf eine einzige Frau, die seine, beziehen. Die zahlreichen Frauenkirchen wurden natürlich nicht den Frauen geweiht, sondern der (einzigen, heiligen Jung-) frouwen. Der Unterschied von Singular und Plural hat sich in der Geschichte der deutschen Sprache immer deutlicher ausgeprägt: Feminina haben das –en nur im Plural, nie im Singular. Bei Maskulina kann man wegen des Artikels (der, des, dem, den) nur den Akkusativ Singular mit dem Dativ Plural verwechseln (den Menschen), was nicht so leicht geschieht.

Besonders stark waren die Verluste der schwachen Substantiva in der frühen Neuzeit, als massenhaft schwache Maskulina in die starke Flexion übergegangen sind oder eben zu Feminina wurden. Der mittelalterliche karpfe, mit dem Genitiv des karpfen, wurde z.B. zu der Karpfen und nahm dann auch das Genitiv-s an (des Karpfens). Der Nominativ wurde „rückgebildet“, d.h., es gab offenbar viele Sprecher, die die obliquen oder die Plural-Formen kannten, aber den Nominativ Singular noch nicht, so dass sie ihn analog bilden mussten:

       den Wagen   :   der Wagen
=   den Karpfen   :   x, also: der Karpfen.

Die Ausnahmen zu diesem Wandel erklärt Behaghel (1928, 512) so: „Nach diesen Veränderungen bleiben bei der alten n-Flexion nur Bezeichnungen lebender Wesen, die häufiger als Subjekte erscheinen, wo somit der Nominativ besonders festen Boden hatte; auch kommt in Betracht, daß fast nur lebende Wesen im Vokativ erscheinen können“. Es gibt auch ein paar Dubletten, bei denen der Faktor „höheres Lebewesen“ sichtbar wird: Den alten Nominativ haben bewahrt der Franke, der Rappe, der Drache, der Tropf, der Lump; rückgebildet wurden die Bezeichnungen für unbelebte Dinge: der Franken, der Rappen, der Drachen, der Tropfen, der Lumpen.

Es gab aber noch einen zweiten Weg aus der Klasse der schwachen Substantiva, einen, der für unser Problem relevant ist: Zahlreiche andere Substantiva dieser Klasse sind zu den Feminina übergetreten, darunter die Äsche (Fisch), die Assel, die Barbe, die Grille, die Heuschrecke, die Hummel, die Made, die Ratte, die Schlange, die Schleie, die Schnake, die Schnecke, die Schnepfe, die Zecke; nicht übergetreten sind: der Affe, der Falke, der Hase, der Löwe, der Rabe – und nicht etwa, weil sie wegen ihres Adels als Männer empfunden werden, sondern weil bei diesen Wörtern der genannte Wandel einfach nicht stattgefunden hat. Maskulina geblieben sind natürlich auch die Bezeichnungen für Menschen, wie der Zeuge, der Bote, bei denen das natürliche Geschlecht das Genus stabilisiert. Paul (1917, 4f.) weist darauf hin, dass „Wörter, die vorzugsweise im Plural gebraucht werden, am meisten dem Wechsel des Geschlechts ausgesetzt gewesen sind“ – und das gilt vor allem für kleine Lebewesen. Wer von dem Wort der Zecke, Plural die Zecken den Singular nie gehört hat, bildete ihn analog:

      die Blumen :   die Blume
=   die Zecken   :   x, also die Zecke.

Rückbildungen dieser Art sind ausgesprochen häufig (auch wenn sie von Theoretikern der Flexionslehre und Wortbildung meist ignoriert werden), sie betreffen nicht nur Tierbezeichnungen und schwache Maskulina, das Resultat ist aber meist ein Femininum: Die Blüte ist aus dem Femininum bluot, Genitiv und Plural blüete, entstanden, die Mythe aus der Mythos, Plural die Mythen, die Universalie aus das Universale, Plural die Universalien, die Bibel war ursprünglich ein Neutrum Plural (biblia), die USA werden/wird langsam zum Femininum Singular (e pluribus unum).

Die Faktoren „selten als Subjekt verwendet“ und „häufig im Plural verwendet“ haben die Klasse der Maskulina heute stark dezimiert, was zu den Befunden von Köpcke und Zubin geführt hat. Boshafter Sexismus hat dabei wohl keine Rolle gespielt.

Zitierte Literatur:

Otto Behaghel: Geschichte der  deutschen Sprache (Grundriss der germanischen Philologie. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter begründet von Hermann Paul 3), Fünfte verbesserte und stark erweiterte Auflage mit einer Karte. Berlin u. Leipzig 1928.

Klaus-Michael Köpcke und  David Zubin, Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen. In: Ewald Lang und Gisela Zifonun (Hg.): Deutsch typologisch. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1995. Berlin, S. 473–491.

Hermann Paul: Deutsche Grammatik. Band II. Teil III: Flexionslehre. Tübingen 1917, unveränderter Nachdruck 1968.