Frau Hoppegartens Pferdepark

Von Kathrin Schrocke

Im Rahmen meines Germanistik-Studiums war ich einige Jahre Hilfskraft bei Professor Ecker. Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, das wir seinerzeit führten. Darin ging es um Kinderbücher – und um die Tatsache, dass in Herrn Eckers Kindheit Kinderbücher offenbar keine Rolle gespielt hatten. Auf diesem Gebiet war er absolut unbedarft. Vielleicht liegt es an diesem erschütternden Bekenntnis, dass ich nach meinem Studium Kinder- und Jugendbuchautorin wurde. Und in meinen Texten (über Menschen und Pferde) gerne auf alte und neue Kinderbücher verweise.

Der vergilbte Zettel hing am Informationsbrett unseres Einkaufscenters, und wenn nicht genau daneben die Werbung für den emotionalen Fernseher gepappt hätte, wäre er mir wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen.

Alle in meiner Klasse hatten den emotionalen Fernseher. Nur meine Eltern waren zu geizig oder zu altmodisch oder ganz einfach zu fies, mir einen zu kaufen. Der emotionale Fernseher war von Experten extra für uns Kinder entwickelt worden. Es gab ihn in den Farben Neongelb, Ozeanblau, Lovelypink und Metallicgrün. Auf Lovelypink stand ich natürlich am meisten – aber eigentlich hatte ich es auf den neongelben abgesehen, weil der perfekt zu den Leuchtsternen an meiner Zimmerdecke passte.

Der emotionale Fernseher schaltete sich automatisch ab, wenn Sendungen liefen, die nicht für Kinder gedacht waren. Er konnte außerdem in 30 verschiedenen Stimmen sprechen. Wenn man ihn anmachte, sagte er „Hi! Schön, dass du wieder vorbeischaust!“ Wenn man ihn ausschaltete, gähnte er und sagte: „Echt schade, dass du gehst! Aber sicher sehen wir uns bald schon wieder!“

Am tollsten aber war, dass der emotionale Fernseher genau aufzeichnete, was man guckte. Er errechnete dann das perfekte Fernsehprogramm, und sobald man anschaltete und er einen begrüßt hatte, gab er einem Empfehlungen und Fernsehtipps für die ganze Woche, und man konnte sicher sein, nie mehr in seinem Leben etwas zu versäumen.

Am meisten aber sehnte ich mich nach dem emotionalen Fernseher, weil ich endlich eine Glotze ganz für mich alleine haben wollte. Neben mir gab es da nämlich noch meine Brüder Lucki und Jan – Lucki war vier, Jan war 13 und ich mit zehn Jahren in der Mitte. Es gab keine einzige Sendung, die uns alle drei gleichermaßen interessierte – und ständig stritten wir uns über das Programm.

Aber ich wollte ja eigentlich von dem gelben Zettel erzählen, und von Frau Hoppegartens Pferdepark.

Auf dem Zettel stand in fein säuberlicher Schrift:

Mädchen oder Junge mit schöner Stimme zum Vorlesen gesucht!“ Darunter war ein Pferd gezeichnet und dann stand da eine Telefonnummer.

Mit Nebenjobs kannte ich mich aus. In den letzten Ferien hatte ich auf das Schrei-Baby unserer Nachbarin aufgepasst und den Hund der verwirrten Frau Reinicke Gassi geführt. Für jemand Fremden hatte ich noch nie gearbeitet. Auf der anderen Seite stand da das Wort Mädchen, eine schöne Stimme hatte ich auch – und die Ferien waren so lang, dass ich Abwechslung gut gebrauchen konnte. Also riss ich den Zettel ab und rief von zu Hause aus an.

Eine Frau Hoppegarten war am anderen Ende.

„Ja, eine schöne Stimme hast du schon mal!“, stellte sie fest, nachdem ich mich vorgestellt hatte. „Liest du denn auch gerne vor?“

Ich wurde ein bisschen rot. Lieber sah ich fern oder spielte Computer. Aber das brauchte Frau Hoppegarten ja nicht zu wissen. „Ich liebe Bücher!“, sagte ich also etwas übertrieben und mein Bruder Lucki, der nur in einer Spiderman-Unterhosen bekleidet an mir vorbeispazierte, sah mich an wie eine Außerirdische.

„Sehr gut!“, sagte Frau Hoppegarten zufrieden. „Hast du Zeit, morgen Vormittag bei mir vorbeizuschauen? Ich dachte so an sechs, sieben Stunden.“ Sechs, sieben Stunden! Das war ganz schön lange.

„Und was soll ich Ihnen vorlesen?“, fragte ich. Bestimmt gab es irgendwo einen Haken. Vielleicht musste ich Frau Hoppegarten schnulzige Liebesromane vorlesen. Bücher, in denen Frauen sich in einen wunderschönen Arzt mit langen Wimpern verlieben, aber so heimlich, dass er nichts davon merkt. Meine Lüneburg-Oma las solche Bücher und erzählte die Handlung am Kaffeetisch in Zeitlupe nach. Ich hatte mir geschworen, niemals in meinem Leben einen Liebesroman zu lesen.

Vielleicht aber war es sogar noch schlimmer. Vielleicht war Frau Hoppegarten eine schrecklich kluge Frau, der ich komplizierte Wälzer von Nobelpreisträgern vorlesen musste. Bücher mit tausend Seiten, gespickt mit Fremdwörtern, die ich noch nie gehört hatte, und einer Handlung, die so langweilig war, dass einem während dem Vorlesen das Gesicht einschlief.

Frau Hoppegarten lachte leise in den Hörer. „Nein, nein!“, sagte sie. „Es geht nicht um mich. Du sollst meinen Pferden vorlesen. Sie lieben Bücher über alles. Und der Junge, der ihnen normalerweise vorliest, hat morgen seinen freien Tag.“

Lucki kam aus der Küche zurück gerast. Ein halber Schokokuss klebte ihm auf der Stirn. Ein bisschen davon auch in den Haaren. „Spongebob fängt an!“, krähte er und verschwand im Wohnzimmer.

Hatte ich da eben richtig gehört? Ich sollte Frau Hoppegartens Pferden vorlesen?

Entweder war die Frau verrückt oder die Leitung gestört. Oder ich hatte sie ganz einfach falsch verstanden.

Wahrscheinlich hatte sie gesagt: „Du musst meinem Ferdi vorlesen!“ Und ich hatte mir das mit den Pferden nur zusammengereimt.

Ferdi war die Abkürzung von Ferdinand, und vielleicht hatte sie einen Mann, der Ferdi hieß.

„Am besten komme ich morgen einfach vorbei!“, schlug ich vor, ehe es zu weiteren Missverständnissen kam. Frau Hoppegarten erklärte mir den Weg, ich legte auf und ging ins Wohnzimmer, um mit Lucki und Jan “Avatar – der Herr der Elemente“ im Nachmittagsprogramm zu sehen.

*

Am nächsten Tag radelte ich mit meinem Mountainbike zu Frau Hoppegartens Pferdepark.

Der Hof befand sich nicht direkt im Dorf, sondern ein gutes Stück außerhalb, neben der verfallenen Kapelle. Hier war vor Uhrzeiten einmal das Pfarrhaus gewesen – und darin eine kleine Bücherei. Ich musste am Weiher vorbeiradeln, dann links über den Schotterweg, den Hügel hoch bis zum Feldkreuz an der Kuppe. Und tatsächlich sah ich es plötzlich, als ich am höchsten Punkt angelangt war: Eingebettet in die blühende Landschaft lag das Anwesen zu meinen Füßen. Es war wirklich der alte Pfarrhof, der zu einem Pferdehof umgebaut worden war. Im Zentrum stand noch das hübsche kleine Fachwerkhaus mit dem strohgedeckten Dach. Daneben befand sich der Heuschober, in dem vor fünfzig Jahren eine Bücherei eingerichtet gewesen war. Nachdem der Pfarrer gestorben und die Kapelle bei einem Blitzschlag halb abgebrannt war, hatte die Gemeinde das Haus und den Anbau verfallen lassen. Eine zeitlang hatten die Pfadfinder im Obstgarten hinter dem Pfarrhaus campiert, und im Winter gab es manchmal einen Weihnachtsbasar auf dem Gelände.

Ich stieg vom Rad ab und schob es den Rest des Holperwegs in Richtung Hof hinunter.

Die Sonne brannte heiß herab, die Luft um mich herum flirrte. Ein bisschen sah das alte Pfarrhaus mitsamt der niedergebrannten Kapelle und den leeren Weideplätzen aus wie eine Fata Morgana.

„Dann wollen wir mal!“, sagte ich zu mir selbst. Das ist ein Spruch, den meine Lüneburg-Oma immer sagt, wenn sie eine Arbeit zu erledigen hat. Und Arbeit stand an. Ich sollte schließlich Ferdi vorlesen!

Allerdings war weit und breit kein Ferdi zu sehen. Kein Mensch tummelte sich dort drüben am Haus. Der Stall wirkte verlassen, das Haus unbewohnt. Alles schien sonderbar ausgestorben.

Mir wurde mulmig zumute. Ich hätte meinen Eltern doch von meinem Vorhaben erzählen sollen. Sie wussten nicht einmal, wo ich war.

Ich stellte mein Mountainbike am Gartenzaun ab und trat unschlüssig in die Einfahrt. Und da hörte ich es: die sanfte Stimme einer alten Frau. Die Worte wurden vom Wind zu mir herüber getragen: „Als Fräulein Honig das Arbeitszimmer betrat, stand Fräulein Knüppelkuh mit ungeduldiger und finsterer Miene neben ihrem gewaltigen Schreibtisch. Ja, Fräulein Honig, sagte sie, was wollen Sie? Sie sehen ja heute früh vollkommen aufgelöst aus. Haben diese kleinen Stinker Sie mit Papierkügelchen beschossen?

Offenbar las die alte Dame eine Geschichte vor. Ein Liebesroman war das auf jeden Fall nicht. Und bestimmt auch nicht das Buch eines Nobelpreisträgers. Ehrlich gesagt war ich erleichtert.

Neugierig folgte ich den Worten und ging langsam um das Haus herum. Bienen summten durch die Luft, es roch nach Rosen und überreifen Äpfeln.

Ich bog um die Ecke, in den hinteren Teil des Gartens und blieb wie angewurzelt stehen.

Den Anblick werde ich wohl nie vergessen – nicht mal, wenn ich hundertzwölf werde und nicht mehr weiß, dass auf jeden Montag ein Dienstag folgt, und auf jeden Dienstag ein Mittwoch!

In einem hölzernen Liegestuhl saß die alte Frau Hoppegarten, gemütlich mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien. Ihr graues Haar war offen und reichte bis zur Hüfte, und es steckte eine riesige rote Blüte darin. Sie trug eine gepunktete Kittelschürze und war barfuß.

Ein paar Meter neben dem Liegestuhl, direkt im Pfarrgarten mit den Obstbäumen, standen die Pferde. Es waren insgesamt sechs, sie hatten sich unter den Apfelbäumen ein schattiges Plätzchen gesucht und lauschten Frau Hoppegartens Erzählung. Ich weiß nicht, ob ihr jemals ein Pferd dabei beobachtet habt, wie es sich vorlesen lässt. Ich auf jeden Fall nicht. Ich wusste, dass Pferde galoppieren, springen, wiehern und kacken. Aber ein Pferd, das ganz verzückt den Worten einer alten Dame lauscht… so was hatte die Welt noch nicht gesehen!

„Das Mädchen, das vorliest!“, sagte Frau Hoppegarten in dem Moment, als sie mich erblickte. Die Pferde sahen neugierig auf, eines gab einen unzufriedenen Laut von sich, und zwei drehten sich einfach weg und zeigten mir ihren Rücken. Frau Hoppegarten war noch nicht am Kapitelende angelangt und die Pferde schienen nicht erfreut über die plötzliche Störung. Dennoch legte die alte Dame das Buch zur Seite, stand auf, strich sich die Falten aus der Kittelschürze und trat auf mich zu.

„Du bist also Matilda?“, fragte sie und sah freundlich zu mir herab.

Ich nickte und starrte auf die Blüte in ihrem Haar.

„Zuerst stelle ich dir die Pferde vor!“, entschied Frau Hoppegarten und nahm mich bei der Hand. Sie zog mich hinter sich her zu einem schwarzen Hengst. Es war mit Abstand das älteste Pferd in der Runde und sah ganz schön mitgenommen aus. Das eine Auge war blind, das Fell struppig und der Körper eingefallen. Dennoch machte das Tier einen zufriedenen Eindruck. „Black Beauty!“ , flüsterte mir Frau Hoppegarten zu. „Er hat ein schwieriges und arbeitsreiches Leben hinter sich. Von seinem früheren Besitzer wurde er schrecklich gequält, bis ein netter Stallbursche ihn aufgenommen hat. Am liebsten lauscht er deshalb Märchen mit glücklichem Ende.“

Ich nickte verdutzt. Black Beauty kannte ich aus dem Fernseher. Aber der hier schien mir irgendwie anders zu sein.

Schon war Frau Hoppegarten weiter gegangen. „Darf ich dir den kleinen Onkel vorstellen? Er ist immer gut gelaunt und für Streiche aufgeschlossen. Er liebt Kinderbücher über alles.“ Der Apfelschimmel sah mich aus gutmütigen Augen an. Kleiner Onkel… hieß so nicht das Pferd von Pippi Langstrumpf? Ich konnte mich an die Szene im Film erinnern als Pippi Langstrumpf ihr Pferd mit den bloßen Händen hochgehoben hatte! Frau Hoppegarten fand es wohl witzig, ihre Tiere nach berühmten Pferden aus Fernsehserien zu benennen.

Als ich vor dem nächsten Pferd stand, schnappte ich erst mal nach Luft. Was bitte sollte das denn sein? Der riesenhafte Schimmel hatte ein Stirnband um den Kopf, auf dem die Buchstaben MM zu lesen waren. Außerdem kaute er auf einer Butterstulle. MM … ich kannte leckere M&Ms aus der Fernsehwerbung im Kinderkanal. Vielleicht also warb der schmatzende Gaul für Schokonüsse.

„Milchmann ist lustig und humorvoll. Traurige Geschichten kann er nicht leiden! Am besten liest du ihm irgendwelche Lausbubengeschichten oder Witzebücher vor!“, bat mich Frau Hoppegarten, stellte sich auf die Zehenspitzen und fuhr dem großen Pferd mit der Hand durch die Mähne. Aber noch ehe ich diesen sonderbaren Milchmann genauer mustern konnte, hatte sie mich schon weitergeschoben. „Flicka ist etwas ungezähmt und wild!“, mahnte sie mich, als wir vor dem stattlichen Rotfuchs standen. „Eigentlich ist er in der Wildnis aufgewachsen, inzwischen hat er sich aber an die Menschen gewöhnt. Nur hin und wieder geht sein Freiheitsdrang mit ihm durch. Flicka steht wahnsinnig auf Abenteuergeschichten!“

„Ach so…“, ich nickte verdutzt.

Beim nächsten Pferd traf mich fast der Schlag. Sah ich richtig? Das konnte sich doch nur um einen Aprilscherz handeln! Ein muskulöses schwarzes Pferd stand vor mir. Und es trug eindeutig farbige Rollschuhe an allen vier Hufen!

„Negro Kaballo, das Zirkuspferd!“, stellte Frau Hoppegarten vor. „Er ist viel gereist in seinem Leben. Wenn du ihm Reiseführer und Berichte aus fremden Ländern vorliest, ist er mehr als glücklich.“

Ich war sprachlos. Niemals würden mir meine Brüder das glauben. Ein Pferd auf Rollschuhen, das war einfach nur plemplem.

„Und hier ist unser sensibelstes Pferdchen!“, sagte Frau Hoppegarten und ihre Stimme bekam einen sanften Klang. Ein strahlend weißer Schimmel graste ein Stück entfernt von den anderen und hatte uns den Rücken zugekehrt. Vorsichtig stupste Frau Hoppegarten das Tier an. Mit einer anmutigen Bewegung drehte es sich um.

Gut, es trug keine Rollschuhe und auch kein Stirnband. Aber es hatte ein Horn direkt am Hirn.

„Das letzte Einhorn!“, flüsterte Frau Hoppegarten verträumt. „Es liebt Fantasybücher. Aber bitte nichts mit Vampiren.“

Ich sah Frau Hoppegarten an. Dann wanderte mein Blick zu der seltsamen Pferdegruppe zurück, und wieder hin zu Frau Hoppegarten.

„Ich glaube, jetzt brauche ich erst mal einen Schnaps!“, sagte ich. Das sagt meine Lüneburg-Oma immer, wenn irgendetwas passiert, das ihre Knie zum Wackeln bringt. Dabei trinkt sie überhaupt keinen Schnaps, sondern höchstens mal ein Glas Holundersirup.

„Schnaps bekommst du bei mir natürlich nicht!“, sagte Frau Hoppegarten und lachte. „Aber einen Eistee kann ich dir machen. Danach zeige ich dir die Bücherei, und dann kannst du mit dem Vorlesen beginnen.“

*

Die Bücherei befand sich im Pfarrhaus, und sie war bis auf den letzten Winkel mit Büchern vollgestopft. Die Bücher standen in Regalen oder zu Türmen aufeinandergestapelt mitten im Raum. Manche dieser Büchertürme reichten bis hoch zur Decke und schaukelten hin und her, als würden sie bei der kleinsten Bewegung polternd zusammen brechen. Einige Bücher lagen auf Tischen, auf Kommoden oder einfach auf dem Boden herum. Es gab alte und neue Bücher, große und kleine. Es gab zerfledderte Taschenbücher und nagelneue Bücher aus festem Karton. Es gab Bildbände und Reiseführer, Gedichtsammlungen und Kinderliteratur. Es gab dicke Märchenbücher und dünne Comic-Heftchen. Es gab Krimis, Liebesromane und Science-Fiction-Reihen. Es gab Kochbücher mit Fotos von leckeren Gerichten darin, und Babybücher mit niedlichen Zeichnungen und jeder Menge Glitzer. Es gab Mädchenbücher und Jungenbücher, und Bücher, die einfach jedem gefielen, egal ob Mädchen oder Junge, egal ob jung oder alt.

Es gab so viele Bücher, dass mir ganz schwindelig davon wurde.

„Und wo wohnen Sie?“, fragte ich Frau Hoppegarten zögernd. Sie konnte ja kaum in einer Bücherei übernachten. Kein Mensch lebte in einer Wohnung, die nur aus Büchern bestand.

„Mein Zimmer ist oben!“, sagte Frau Hoppegarten und zeigte die Stiege hoch. „Aber meistens bin ich hier unten und suche nach guten Geschichten. Hast du Lust, ein paar Bücher für die Pferde auszusuchen?“

Das brauchte Frau Hoppegarten mir nicht zweimal zu sagen. Es gab hier wirklich jede Menge Auswahl und ich wusste nun ja, wonach ich suchen sollte. Ich blieb bestimmt eine ganze Stunde im Haus. Stieg auf Leitern und Hocker, angelte in den obersten Regalfächern nach versteckten Büchern und zauberte unter den Tisch gerutschte Romane hervor. Um die Mittagszeit war ich mit meiner Suche fertig. Ich hatte für jedes Pferd ein Vorlesebuch ausgewählt konnte mir aber nicht vorstellen, dass sie den Inhalt verstehen würden.

Ich fing mit Black Beauty, dem halbblinden Arbeitspferd an. Für ihn hatte ich ein wunderschönes Märchenbuch entdeckt, und las daraus die Erzählung von Däumelinchen. Die Sonne stand hoch am Horizont, ich cremte mir die Nasenspitze mit Sunlotion ein, hockte mich auf den Zaun der Pferdekoppel und begann mit dem Lesen. Black Beauty stand ein paar Meter von mir entfernt und ließ sich die Sonne auf den Rücken scheinen. Mit jeder Zeile, die ich ihm vorlas, trottete er zutraulich näher heran. Bis er am Schluss direkt neben mir stand und ich ihm freundlich die Mähne kraulen konnte.

Nach dem Happy End kam der kleine Onkel an die Reihe, und für ihn hatte ich sogar zwei Geschichten ausgewählt. Zwei komplette Bücher mit Olchi-Abenteuern! Olchis rülpsen und furzen und lieben Müll. Gemeinsam mit der Sonne war ich weitergewandert. Jetzt hockte ich vor dem Stall auf dem Boden und sämtliche Pferde saßen im Kreis um mich herum. Ab und zu kam Frau Hoppegarten vorbei und versorgte uns mit frisch gepflückten Kirschen. Immer wenn die Olchis etwas Ekliges machten, nickten die Pferde begeistert mit dem Kopf. Und obwohl die Vorlesung allein für den kleinen Onkel bestimmt war, blieben alle bis zum allerletzten Punkt hinter dem allerletzten Satz der Geschichte sitzen. Meine anfängliche Angst war unbegründet. Die Pferde verstanden jedes Wort!

Für Milchmann mit seinem Stirnband hatte ich das Buch „Alice im Wunderland“ entdeckt. Und tatsächlich lachte das riesige weiße Pferd sich schlapp, als es von der Grinsekatze und dem verrückten Hutmacher hörte. Auch die anderen Pferde fanden das toll – wir waren der Sonne inzwischen vor das alte Pfarrhaus gefolgt, ich hockte in einem quietschenden Schaukelstuhl und die Pferde grasten gemütlich im Garten. Aber immer wenn es lustig wurde hoben sie zeitgleich den Kopf, um gemeinsam aus Leibeskräften zu wiehern.

Der Nachmittag brach an, und die Zeit rannte davon. Wie im Flug waren die ersten Stunden mit den Pferden vergangen! Flicka, das leuchtend rote Wildpferd war jetzt an der Reihe. Er schien es zu ahnen, denn ungeduldig scharrte er mit dem Huf. Für ihn hatte ich in der Bücherei das Abenteuerbuch „Die Schatzinsel“ entdeckt, und diesmal gab es eine echte Premiere. Denn ich hockte mich einfach auf Flickas Rücken und las, während er durch die blühenden Felder galoppierte. Die Welt flog wie eine Kulisse an uns vorbei, aber unbeirrt las ich weiter und weiter. Ich las von dem Jungen Jim, von dem fiesen Einbeinigen und dem trunksüchtigen Seemann. Ich las von dem gestohlenen Geld, von der Suche nach den Piraten und von der Insel, auf der der Schatz versteckt worden war. Hin und wieder überlegte ich, ob ich vielleicht träumte. War das meine Fantasie oder Wirklichkeit? Aber ja, der Ritt, der Sonnenschein und die seltsame Lesung – all das schien tatsächlich zu passieren! Nach einer halben Stunde war es genug, und Flicka brachte mich in fröhlichem Trab zurück zu seinen Kollegen.

Anschließend war Negro Kaballo dran, wir waren wieder auf dem Hof und ich griff nach dem Buch mit asiatischen Reisegeschichten. Ich las dem Zirkuspferd ein Kapitel über Thailand vor. Und stellt euch mal vor, was ich und die Pferde da erfahren mussten: In Thailand gilt es als unhöflich, sich zur Begrüßung oder zum Abschied die Hand zu geben!

Thailand war weit weg, wir waren auf der anderen Seite der Welt, und die Sonne ging langsam aber sicher unter. Bald war es sechs, und dann musste ich wieder heim, sonst gab es ein riesiges Donnerwetter!

Frau Hoppegarten hatte mir eine Strickweste umgelegt. Ein frischer Abendwind kühlte die Luft und die Grillen in den Gräsern zirpten. Wir hockten jetzt gemütlich dort, wo ich heute Morgen auf die lustige Gruppe gestoßen war – im hinteren Teil des schönen Gartens.

Nun saß ich in Frau Hoppegartens Liegestuhl, hatte ein Buch auf den Knien und las fröhlich weiter Seite um Seite. Frau Hoppegarten hatte ein Lagerfeuer angemacht und die Pferde standen gemütlich darum herum. Andächtig lauschten sie meiner Geschichte.

Es war die letzte für diesen Tag, und ich hatte sie für das scheue Einhorn ausgewählt. Ich hatte mich für eines der wenigen Bücher entschieden, das ich bereits selber kannte: Harry Potter, der Zauberlehrling, der bei seinen fiesen Verwandten unter der Treppe haust. Fast jedes Kind liebt diese Geschichte und auch bei den Pferden kam sie ziemlich gut an. Black Beauty wirkte auf einmal viel jünger als heute Morgen. Sein schwarzes Fell glänzte im Feuerschein, seine Ohren waren neugierig aufgestellt und er schnaubte zufrieden. Der kleine Onkel hatte ein breites Grinsen aufgesetzt und Flicka lag zahm wie ein Hund zu meinen Füßen. Milchmann, das weiße Pferd mit dem Stirnband am Kopf, lehnte ganz lässig am Apfelbaum und spuckte ein paar Kirschkerne durch die Gegend. Negro Kaballo hatte sich auf ein Bein gestellt und bestätigte jeden meiner vorgelesenen Sätze mit einem leisen Wiehern. Und das Einhorn, für das ich die Geschichte ausgewählt hatte, kam langsam immer näher zu mir heran gepirscht, bis sein strahlendes weißes Horn fast die Buchseite berührte!

Dann war das Kapitel zu Ende und meine Stimme rau. Außerdem war es halb sieben und meine Eltern würden einen Aufstand machen. Ich musste dringend los.

„Jetzt ist es genug mit der Vorleserei!“, entschied auch Frau Hoppegarten und nahm mir das Buch aus der Hand. „Der Junge, der ihnen normalerweise vorliest, kann morgen mit dem nächsten Kapitel aus Harry Potter beginnen. Als Dankeschön bekommst du noch etwas von mir. Aber nicht jetzt, sondern irgendwann später.“ Für mich war das ok. Der Nachmittag war so verrückt gewesen, dass ich überhaupt nicht an eine Bezahlung dachte.

Ich verabschiedete mich von jedem einzelnen Pferd. Klopfte ihnen freundschaftlich auf die Seite und tippte ihnen zum Abschied auf die Stirn.

Frau Hoppegarten führte mich zurück zu meinem Fahrrad. Ich schüttelte ihr freundlich die Hand, schließlich war sie kein Pferd, und wir waren auch nicht in Thailand. Und dann radelte ich schnurstracks davon.

*

Als ich später mit meinen Brüdern und meinen Eltern auf der Terrasse saß und wir grillten, erzählte ich von meinem Ausflug zu Frau Hoppegartens Pferdepark.

„Stark!“, schrie Lucki. „Ich will das Turbopferd mit den Rollschuhen kennenlernen!“

„Vielleicht war das Pferd mit dem Horn ein Rhinozeros!“, überlegte Jan, an seiner eigenen Vermutung zweifelnd.

„Du warst ohne uns zu fragen den ganzen Tag bei einer alten Frau mit Rhinozeros und hast ihr vorgelesen?“, fragte Mama entsetzt.

„Ich habe nicht ihr, sondern den Pferden vorgelesen!“, antwortete ich leise. Meine Mutter hörte endgültig zu essen auf. Offenbar machte dieser Hinweis das Ganze nicht besser.

„Das alte Pfarrhaus ist doch unbewohnt!“, sagte Papa und sah mich stirnrunzelnd an. „Matilda, musst du denn immer solche Märchen erzählen?“

„Das alte Pfarrhaus ist jetzt ein Pferdepark!“, beteuerte ich. „Mit Ställen und Weiden und einer Bibliothek, extra für die Tiere.“

Meine Eltern wechselten einen Blick, als wäre ich verrückt geworden. Dann setzten sie uns drei Kinder ins Auto und fuhren den ganzen Weg, den ich eben in Rekordzeit mit dem Fahrrad nach Hause gestrampelt war, wieder zurück. Wir mussten am Weiher vorbeifahren, dann links über den Schotterweg, den Hügel hoch bis zum Feldkreuz auf der Kuppe.

Das alte Pfarrhaus lag im Mondschein unter uns. Die Weide und die eingezäunte Koppel waren weg. Der Heuschober war kein Pferdestall mehr, sondern ein verfallenes, olles Brettergebäude. Der Liegestuhl und der Schaukelstuhl waren aus dem Garten verschwunden, das Obst war auf den Bäumen verfault, die Rosen in der Einfahrt vertrocknet und die Haustür hing schief in der Angel.

Vorsichtig trat mein Papa ins Haus. „Sag ich doch! Unbewohnt und leer!“, murmelte er, und klang dabei irgendwie erleichtert.

Ich stand verblüfft in dem verlassenen Raum. Kein einziges Buch weit und breit. Und überhaupt keine Möbel.

Hatte ich vielleicht doch nur alles geträumt? Hatte sich meine Fantasie selbständig gemacht und war der komplette Nachmittag nur in meinem Kopf geschehen?

Dann ging ich die Treppe nach oben. Hier gab es ein Zimmer mit einem verlassenen Bett, darüber hing das Foto eines Mädchens. Das Bild war schwarz-weiß und bestimmt fünfzig Jahre alt. Das Mädchen darauf trug ein gepunktetes Kleid. Es hatte langes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte, und darin steckte eine riesige Blüte.

Neben dem Bett stand ein lovelypinker Karton mit einer neongelben Schleife darum. Mein Name stand darauf, in der gleichen sauberen Schrift wie auf dem Zettel im Einkaufscenter.

Ich trug das Geschenk vorsichtig die Stufen hinab. Der Karton war schwer und ich war sicher, dass Frau Hoppegarten etwas ganz besonderes für mich ausgesucht hatte.

Es konnte durchaus der emotionale Fernseher sein.

Vielleicht waren es aber auch jede Menge Bücher.

[Erstveröffentlichung: Amina Paul (d. i. Kathrin Schrocke): Frau Hoppegartens Pferdepark. In: Traumpferde & Ponyträume. Hg. von Stefanie Letschert. Würzburg 2012, S. 71–88.]

Zum Weiterlesen:

 Andersen, Hans Christian: Tommelise. In: Eventyr, fortalte for Born. Kopenhagen 1835, S. 5–28.

 Beagle, Peter S.: The last Unicorn. London 1968.

 Carroll, Lewis: Alice’s Adventures in Wonderland. London 1865.

 Dahl, Roald: Matilda. London 1989.

 Dietl, Erhard: Die Olchis sind da. Hamburg 1990.

 Kästner, Erich: Der 35. Mai. Hamburg 1931.

 Lindgren, Astrid: Pippi Langstrump. Stockholm 1945.

 O´Hara, Mary: My friend Flicka. Philadelphia 1941.

 Rosenboom, Hilke: Ein Pferd Namens Milchmann. Hamburg 2005.

 Rowling, Joanne K.: Harry Potter and the Philosopher`s Stone. London 1997.

 Sewell, Anna: Black Beauty. The Autobiography of a Horse. London 1877.

 Stevenson, Robert Louis: Treasure Island. London 1883.